Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Litauisch angefangen, deutsch weitergemacht, russisch aufgehört - bis es nach Deutschland ging
Autor/Autorin: Walter P., geb. 1931, Kraftfahrzeugschlosser
Quellenbeschreibung: Autobiographischer Bericht, maschinenschriftl. Manuskript, 54 Seiten, 15 Abbildungen
Entstehungszeit: 2005
Entstehungszusammenhang:Der Bericht entstand im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes des Pädagogischen Arbeitskreises Mittel- und Osteuropa (PAMO) Hessen.
Zeitraum der Schilderung: 1931-1958/2005
Schlagworte: Auswanderung, Enteignung, Heimkehrer, Lager Friedland und Büdesheim, Militärdienst in der Sowjetarmee
Geographische Schlagworte: Eglienen, Königsberg, Memel, Memelgebiet, Plicken
Konkordanz: Eglienen → Eglynai, Königsberg → Kaliningrad, Memel → Klaipėda, Plicken →Plikiai,
Archiv: Kulturzentrum Ostpreußen Ellingen, Signatur K 5112 III 58; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/kulturzentrum-ostpreussen
Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat
[Kommentiert wurden aufgrund der Länge des Berichts nur die explizit den Lebensweg des Autors betreffenden Passagen sowie diejenigen zu den zentralen Themenkomplexen Flucht/Evakuierung am Kriegsende und unmittelbare Nachkriegszeit]
Inhalt:
Der Autor erzählt die Geschichte einer Kleinbauernfamilie aus dem Memelgebiet, in der er das vierte von 12 Kindern ist. Die Zwischenkriegszeit, in der das autonome Memelgebiet Teil Litauens war, und den Zweiten Weltkrieg, während dessen das Gebiet zum Deutschen Reich gehörte, streift er nur kurz. Das Zentrum seiner Schilderungen bilden die Flucht/Evakuierung 1944 beim Herannahen der Front, welche sich zu einer wochenlangen Odyssee im bereits sowjetisch besetzten Memelgebiet entwickelt, und die unmittelbare Nachkriegszeit in Herrn P.'s Heimatort, der nun zur litauischen Sowjetrepublik gehört. Herr P. beschreibt seine berufliche Laufbahn bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1958 sowie die Gründung seiner eigenen Familie. Knappe Angaben zum Lebensweg seiner Mutter und seiner Geschwister, die alle in die Bundesrepublik übersiedelten, während der Vater 1945 ums Leben kam, sowie einige Anekdoten ergänzen den Bericht.
Einordnung/Kommentar:
Der Autor stammt aus einer für das Memelland nicht untypischen Kleinbauernfamilie. 44 Prozent der Bevölkerung des Memelgebietes waren in der Landwirtschaft tätig, weit über die Hälfte der Höfe verfügte über nicht mehr Land als die 10 Hektar, die auch Familie P. bewirtschaftete.1 Kinderreiche Familien konnten sich daher wohl nur durch Nebeneinkünfte wie die von Vater P., der auch als Postbeamter arbeitete, ernähren.
Das von Deutschen und Litauern besiedelte Memelgebiet wurde durch den Versailler Vertrag vom Deutschen Reich abgetrennt und 1923 von Litauen annektiert.2 Der Region wurde im Memelstatut vom 8. Mai 1924 Autonomie zugestanden, was der deutschen Bevölkerungsgruppe umfangreiche Minderheitenrechte sicherte. Diese wurden jedoch vom seit 1926 im permanenten Kriegszustand regierenden autoritären Regime Litauens oft nicht beachtet.3 Die Versuche der litauischen Regierung, im Schulunterricht entgegen den Bestimmungen des Memelstatuts Litauisch als Unterrichtssprache durchzusetzen, waren jedoch nicht erfolgreich. 85 Prozent der Schulkinder im Memelgebiet besuchten deutsche Schulen.4 Diese Ziffer liegt weit über dem Anteil der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe an der Gesamtzahl der Memelländer, denn auch zahlreiche litauische Kinder besuchten deutschsprachige Schulen. Herrn P.s Erfahrungen in einer litauischsprachigen Schule bilden daher eine Ausnahme, die darauf zurückzuführen ist, dass sein Vater als Postbeamter arbeitete und als Staatsbediensteter verpflichtet war, seine Kinder auf litauischsprachige Schule zu schicken.5
1939 zwangen die Nationalsozialisten Litauen dazu, das Memelgebiet ans Deutsche Reich abzutreten.6 In der Folgezeit setzte die von Herrn P. angedeutete Regermanisierung des Gebietes ein.
In seiner Beschreibung des Kriegsendes erwähnt Herr P. knapp den Bau des sogenannten "Ostwalls". Unter Federführung von Parteistellen mussten alle arbeitsfähigen Bewohner der Provinz entlang der Grenze ein Stellungssystem errichten, mit dem vergeblich versucht wurde, den Vormarsch der sowjetischen Armee aufzuhalten.7
Die von Herrn P. geschilderte Räumung des Memelgebietes im August 1944 hatte nicht zum Ziel, die Bevölkerung weiträumig und langfristig in Sicherheit zu bringen, vielmehr bestand die Absicht, die voraussichtliche Kampfzone für die Zeit der Kampfhandlungen zu räumen.8 Ende August sollten dann nur die Menschen, die zur Einbringung der Ernte benötigt wurden, in die geräumte Zone zurückkehren, nicht die gesamten Familien.9 Aus Herrn P.s Bericht wird jedoch deutlich, dass dies den Menschen nicht zu vermitteln war. Obwohl sie Zweifel daran hegten, ob sich das Einbringen der Ernte und das Bestellen der Felder angesichts der Kriegslage überhaupt lohnen würde, kehrten sie, sobald sie auch nur gerüchteweise hörten, dass dies wieder möglich sei, mit allen Angehörigen auf ihre Höfe zurück.
Herrn P.s Bericht lässt auch die drastischen Unterschiede zwischen der Räumung im August 1944 und derjenigen zwei Monate später erkennen. Die Geschwindigkeit des russischen Vorstoßes, der am 5. Oktober 1944 begann, überraschte sowohl die Militärbefehlshaber als auch die für die Evakuierung zuständigen zivilen Stellen. Von einem geordneten Abtransport der Memelländer konnte keine Rede sein. Etwa 30.000 der ursprünglich über 130.000 Memelländer teilten das Schicksal der Familie P. - sie wurden von den sowjetischen Truppen überholt und verbrachten bereits die letzten Kriegsmonate unter deren Herrschaft.10 Herr P. berichtet von der Not der zeitweise obdachlos umherirrenden Flüchtlinge, die sich nach der Rückkehr in die mittlerweile meist völlig geplünderten Heimatorte fortsetzte.11 Deportationen nach Sibirien oder in regionale Zwangsarbeitslager und Übergriffe durch sowjetische Soldaten und umherziehende Banden gehörten offenbar zum Alltag.12 Allerdings scheint nach Herrn P.s Bericht hauptsächlich das Eigentum der Flüchtlinge Ziel der Übergriffe gewesen zu sein, während Misshandlungen, Tötungen und Vergewaltigungen eher Ausnahmen darstellten.
Die von Herrn P. beschriebenen Deportationen von Deutschen in die Sowjetunion begannen im Februar 1945 und wurden zwei Monate später ausgesetzt. 1948 erfolgte eine zweite, im Memelgebiet weniger umfangreiche Deportationswelle von Deutschen aus Litauen.13 Vom Februar 1945 an wurden, wie dies auch Herr P. anschaulich schildert, Bauern aus den angrenzenden litauischen Landkreisen und viele landwirtschaftsfremde Sowjetbürger auf memelländischen Bauernhöfen angesiedelt. Gleichzeitig kehrten aber auch immer mehr Flüchtlinge, denen es im Oktober 1944 gelungen war, der Roten Armee zu entkommen und sich in den Westen durchzuschlagen, auf eben diese Höfe zurück - eine der Not geschuldete Wanderungsbewegung, die bis 1948 anhielt und der sich sogar Memelländer anschlossen, die bereits das weitgehend zerstörte Westdeutschland erreicht hatten.14 Zu Jahresbeginn 1946 wurden noch 2.653 Höfe von Deutschen und deren Familien, insgesamt 7.800 Personen, bewirtschaftet.15 Die Lebensbedingungen waren hier wesentlich besser als im benachbarten Ostpreußen, was auch damit zusammenhing, dass Alteingesessene wie Neuansiedler ihre Höfe zunächst relativ unbehelligt von staatlichen Vorgaben bewirtschaften durften und sogar, wie es auch Herr P. beschreibt, Fördermittel erhielten.16 Die relativ gute Versorgungslage und das scheinbare Anknüpfen an die Vorkriegsverhältnisse trugen gemeinsam mit dem Umstand, dass die Memelländer die einzigen Deutschen auf sowjetischem Territorium waren, denen 1947 kollektiv die sowjetische Staatsbürgerschaft angeboten wurde, dazu bei, dass 1953 wieder 15-20.000 Memelländer in ihrer Heimat lebten.17 Wie Herr P. erhielten sie neue, sowjetische Personalpapiere18, in die lithuanisierte Namen eingetragen wurden.19 Die Wehrpflicht in der sowjetischen Armee war für die jungen Memelländer ab 1950 obligatorisch.20
Aus Herrn P.s Bericht wird aber auch deutlich, dass die wirtschaftliche wie gesellschaftliche Entwicklung die alteingesessenen Bewohner enttäuschte. Insbesondere die Kollektivierung der Landwirtschaft veranlasste viele Memelländer dazu wie Herr P. ihre Höfe zu verlassen. Die Lithuanisierung der Lebensverhältnisse - Herr P. erwähnt die Sprachschwierigkeiten vieler Memelländer, die auch ihm den weiteren Schulbesuch verwehrten - verstärkten die Unzufriedenheit.21 Die am 8. April 1958 zwischen der Sowjetunion und den beiden deutschen Staaten geschlossenen Repatriierungsvereinbarungen erlaubten es schließlich 6.156 Personen, auszureisen. 453 wählten den Weg in die DDR, 5703 reisten in die Bundesrepublik. Damit gehörten neben Herrn P. etwa zehn Prozent der 1964 in Westdeutschland lebenden Memelländer zu dieser Gruppe.22 Der Ausreisewillige musste nachweisen, dass er am 21. Juni 1941 die deutsche Staatsbürgerschaft besessen hatte - was aufgrund der neuen sowjetischen Personalpapiere vielen schwer fiel.23 Angeblich wurde die Ausreise vor allem Menschen gestattet, die als "nichtsowjetisierungsfähig" galten, während wichtige Arbeitskräfte bleiben mussten.24 Herr P., der, wie er freimütig einräumt, in nicht immer ganz legale Geschäfte verwickelt war, gehörte offenbar nicht zu letztgenannter Gruppe.
1 Deutinger 1999, S. 984.
2 Deutinger 1999, S. 978-983.
3 Deutinger 1999, S. 980-982.
4 Deutinger 1999, S. 991f; Strakauskaitė 2000, S. 78-81.
5 Kibelka 1997, S. 32.
6 Deutinger 1999, S. 983.
7 Meindl 2007, S. 418-422.
8 Schwendemann 2004, S. 129; Kabath, Forstmeier 1963, S. 220f.
9 Kabath, Forstmeier 1963, S. 221; Deutinger 1999, S. 996; Kibelka 1997, S. 107.
10 Kabath, Forstmeier 1963, S. 225-276; Deutinger 1999, S. 996; Kibelka 1997, S. 21-44.
11 Vgl. Kibelka 1997, S. 35f.
12 Vgl. Deutinger 1999, S. 996: Internierungslager.
13 Kibelka 1997, S. 29, 206.
14 Kibelka 1997, S. 34, 38, 107-114, 121, 124-126, 141, 154.
15 Kibelka 1997, S. 38.
16 Kibelka 1997, S. 44, 136f, 152, 154.
17 Kibelka 1997, S. 107, 114, 124.
18 Kibelka 1997, S. 152, 157, 204.
19 Kibelka 2002, S. 50-52.
20 Kibelka 2002, S. 52f.
21 Kibelka 1997, S. 127, 134-144, 156f, 199-207, 257-259.
22 Kibelka 2002, S. 103; Dies. 1997, S. 258; Deutinger 1999, S. 997.
23 Kibelka 2002, S. 91f.
24 Kibelka 1997, S. 258f.
Literatur:
Deutinger 1999: Stephan Deutinger: Die baltischen Länder: Estland, Lettland, Litauen (mit Memelgebiet). In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. Teil 2. Stuttgart 1999, S. 939-997
Hollstein 1998: Andreas Hollstein: Die Rechte der Minderheiten in Litauen zwischen 1918 und 1940. In: Boris Meissner (Hg.): Die deutsche Volksgruppe in Litauen und im Memelland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-litauischen Verhältnisses. Tallinn 1998, S. 30-45
Kabath, Forstmeier 1963: Rudolf Kabath, Friedrich Forstmeier: Die Rolle der Seebrückenköpfe beim Kampf um Ostpreußen 1944-1945. In: Hans Meier-Welcker (Hg.): Abwehrkämpfe am Nordflügel der Ostfront 1944-1945. Stuttgart 1963, S. 215-551
Kibelka 1997: Ruth Kibelka: Die deutsche Bevölkerung zwischen Anpassung und Ausweisung nördlich und südlich der Memel (1945 - 1948). Berlin 1997
Kibelka 2002: Ruth Kibelka: Memellandbuch. Fünf Jahrzehnte Nachkriegsgeschichte. Berlin 2002
Klein 1993: Manfred Klein: Die versäumte Chance zweier Kulturen. Zum deutsch-litauischen Gegensatz im Memelgebiet. In: Joachim Tauber: Zwischen Staatsnation und Minderheit. Litauen, das Memelland und das Wilnagebiet in der Zwischenkriegszeit (Nordost-Archiv, Neue Folge Band II/1993, Heft 2). Lüneburg 1993, S. 317-359
Meindl 2007: Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch - eine politische Biographie. Osnabrück 2007
Počyte 1998: Silva Počyte: Die sozialen Strukturen im Memelland während der Jahre 1918 bis 1940. In: Boris Meissner (Hg.): Die deutsche Volksgruppe in Litauen und im Memelland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-litauischen Verhältnisses. Tallinn 1998, S. 85-98
Ruffmann 1993: Karl-Heinz Ruffmann: Deutsche und litauische Memelpolitik in der Zwischenkriegszeit. Ein Vergleich. In: Joachim Tauber: Zwischen Staatsnation und Minderheit. Litauen, das Memelland und das Wilnagebiet in der Zwischenkriegszeit (Nordost-Archiv, Neue Folge Band II/1993, Heft 2). Lüneburg 1993, S. 217-234
Schwendemann 2004: Heinrich Schwendemann: Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45. In: Bernd-A. Rusinek (Hg.): Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive. Göttingen 2004, S. 125-150
Stossun 1998: Harry Stossun: Das deutsche Schulwesen in der Zeit der litauischen Selbständigkeit von 1918 bis 1940. In: Boris Meissner (Hg.): Die deutsche Volksgruppe in Litauen und im Memelland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-litauischen Verhältnisses. Tallinn 1998, S. 206-225
Strakauskaitė 1998: Nijolė Strakauskaitė: Schule und Bildungssystem im Memelland (1918-1940). In: Boris Meissner (Hg.): Die deutsche Volksgruppe in Litauen und im Memelland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-litauischen Verhältnisses. Tallinn 1998, S. 226-236
Strakauskaitė 2000: Nijolė Strakauskaitė: Der Einfluss politischer Faktoren auf das kleinlitauische Schulwesen 1871-1933. In: Robert Traba (Hg.): Selbstbewusstsein und Modernisierung. Soziokultureller Wandel in Preußisch-Litauen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Osnabrück 2000, S. 69-82