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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Befragung der Herren B. v. B. und A. B. durch Herrn W. v. B. am 26. November 1958 [Estland, 1933/1939-1941]

Autoren: B. v. B., geb. 1919 in Pommern, Pastor; A. B., geb. 1915 in Helsinki, Finnland, Techniker

Quellenbeschreibung: Transkript eines Interviews, maschinenschriftlich, 39 Blatt

Entstehungszeit: 26.11.1958

Entstehungsort: Gladbeck, Nordrhein-Westfalen

Zeitraum der Schilderung: 1933/1939-1941

Personen: Heinrich Himmler (1900-1945), Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums; Werner Lorenz (1891-1974), SS-Obergruppenführer, Leiter der Volksdeutschen Mittelstelle (Vomi); Dr. Hellmuth Weiss (1900-1992), 1938-1939 Präsident der Deutschen Kulturverwaltung in Reval, 1941 Gebietsbevollmächtigter für die Umsiedlung in der Estnischen Sowjetrepublik, 1959-1965 Direktor des Herder-Instituts Marburg1; Andreas Baron von Koskull (*1906), SS-Standartenführer, Gebietsbevollmächtigter der Umsiedlungskommission2

Schlagworte: Jugendorganisation, Korporation, Studenten, Umsiedlung im Zweiten Weltkrieg

Geographische Schlagworte: Dorpat, Narva, Reval, Estland

Konkordanz: Dorpat→ Tartu, Estland; Reval → Tallinn, Estland

Fundort: Herder-Institut Marburg, Dokumentensammlung, Signatur: DSHI 140 Balt 491,13, Blatt 91-129, https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/herder-institut-ev

Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat


Inhalt:

Herr von B. berichtet von der Entwicklung der deutschbaltischen Jugendorganisationen in Estland, insbesondere der Pfadfinder, und der studentischen Korporationen in Dorpat während der Zwischenkriegszeit. In diesen Organisationen war er als Funktionär tätig. Die Umsiedlung der Deutschbalten 1939/40 beschreibt er als Schock; auf seine eigene Umsiedlung geht er nicht ein. Den Hauptteil seiner Aussagen widmet er seinen Erfahrungen als Ortsbevollmächtigter während der "Nachumsiedlung" der letzten Deutschbalten 1941. Herr B., 1941 ebenfalls als Umsiedlungsfunktionär tätig, ergänzt diese Angaben.


Einordnung/Kommentar:

Die Ausführungen Herrn von B.s zu den Jugend- und Studentenorganisationen in Dorpat erlauben einen Einblick in die Strategie, mit der die Nationalsozialisten die deutschen Minderheiten im Ausland unter ihre Kontrolle bekommen wollten. Sie unterwanderten bereits bestehende Organisationen oder gründeten neue, mit denen sie organisatorische Leerstellen besetzten oder versuchten, arrivierte Institutionen zu verdrängen. Ihr Ziel war es, schlagkräftige Organisationen aufzubauen, welche alle Anweisungen aus Berlin befolgten und so als Instrumente in der deutschen Außen- und Volkstumspolitik benutzt werden konnten.3

In Estland gelang es, mit den deutschbaltischen Pfadfindern eine noch junge Jugendorganisation im Sinne des Nationalsozialismus zu vereinnahmen. Herrn von B.s Aussagen zeigen, wie die Kooperation mit der Hitlerjugend (HJ) - von ideologischen Ähnlichkeiten und den finanziellen Möglichkeiten abgesehen - die im Aufbau befindliche deutschbaltische Organisation befähigte, professionelle und attraktive Jugendarbeit anzubieten: In Deutschland konnten die Jugendführer organisatorisch und weltanschaulich geschult werden, von hier konnten Regularien, Schulungsmaterialien, Liederbücher usw. übernommen werden. Umgekehrt nutzten die deutschen Nationalsozialisten die "volksdeutschen" Jugendverbände zur Verbreitung ihres Gedankengutes und für nachrichtendienstliche Hilfstätigkeiten. Gesteuert wurde dies zunächst auch von der HJ, dann nur noch vom Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) und schließlich von der SS.4

Im studentischen Milieu Dorpats, wo traditionell auch die deutschbaltische Elite ausgebildet wurde, waren völkisch-nationalistische Ideen weit verbreitet.5 Dennoch war es für die deutschbaltischen Nationalsozialisten schwer, in diesen die Oberschicht prägenden Organisationen Fuß zu fassen, da sich die traditionsreichen Korporationen nicht ohne weiteres umformen ließen. Ähnlich wie auch im Deutschen Reich sollten die sehr auf ihre Eigenständigkeit und ihren spezifischen Charakter bedachten Korporationen deshalb durch nationalsozialistisch dominierte Kameradschaften Konkurrenz erhalten und mittelfristig ganz ersetzt werden.6 Zwar konnte ein Teil der traditionsreichen "Livonia" gewonnen und sogar ein Kameradschaftshaus gegründet werden; letztlich gelang es bis zur Umsiedlung jedoch nicht, die Korporationen zu verdrängen.7

Die Aussagen Herrn von B.s lassen die Strategie erkennen, mit der die Nationalsozialisten erfolgreich waren. Sie profitierten in erster Linie davon, dass der Nationalsozialismus nicht auf einem hermetisch geschlossenen Ideologiekonzept basierte, sondern auf unterschiedlichen nationalistisch-rassistischen Grundpositionen, an die zahlreiche, heterogene Gruppen mit ihren eigenen Vorstellungen anknüpfen konnten. So sieht sich Herr von B. vor allem dem Gedanken verpflichtet, das deutsche Volkstum im Baltikum zu erhalten und zu stärken, eine Überzeugung, die sich mit den Leitlinien und der Rhetorik der nationalsozialistischen Volkstumspolitik nur bis zu einem gewissen Punkt vereinbaren ließ.8 Denn für die NS-Führung waren die so gen. Auslandsdeutschen Manövriermasse, die nach politischem und strategischem Kalkül umgesiedelt werden konnten. Dennoch kam es aufgrund der Geschwindigkeit der Entwicklung und der Loyalität gegenüber Deutschland nicht zu Opposition oder Verweigerung, auch Herr von B. zog Widerspruch offenbar nicht in Erwägung.9

Das Ausscheren eines einzelnen subalternen Funktionärs hätte die Umsiedlung nicht gefährden können, denn sie war Teil eines zentralen Projekts des nationalsozialistischen Regimes, der Gewinnung neuen Lebensraums im Osten. Ende 1939 galt das gerade eroberte Polen als dieser Lebensraum, der "germanisiert" werden sollte. Allerdings fehlten die dafür benötigten Siedler. Deshalb wurden mit verschiedenen osteuropäischen Staaten, darunter die baltischen Republiken und die Sowjetunion, Umsiedlungsverträge abgeschlossen.10 Auf dieser Grundlage wurden auch die Deutschen Estlands um die Jahreswende 1939/40 umgesiedelt. Ziel war in erster Linie der sogenannte Warthegau, die Region um Posen. Ein sehr großer Teil der dort lebenden Polen und Juden wurde auf brutalste Weise vertrieben, um Platz für die Deutschbalten und andere "Volksdeutsche" zu machen.11

Offiziell geschah die Umsiedlung freiwillig. Herrn von B.s Bericht zeigt jedoch, dass selbst Deutschbalten, die sich als ausgesprochen "heimattreu" verstanden, kaum eine andere Möglichkeit sahen, als sich der Umsiedlung anzuschließen, weil sie einen Einmarsch der Roten Armee fürchteten oder nicht als einzige Deutsche zurückbleiben wollten.12 Herr von B. führt die seinerzeit propagandistisch stark ausgenutzte Geschichte des polnischen U-Boots Orzeł an, das am 24. September 1939 in den Hafen von Reval/Tallinn eingelaufen war, um sich vor der weit überlegenen deutschen Marine in Sicherheit zu bringen. Das Boot wurde auf Druck Deutschlands und der Sowjetunion seerechtswidrig interniert und von den estnischen Behörden teilweise entwaffnet. Der Besatzung gelang es jedoch, die estnischen Wachen zu überwältigen und mit dem U-Boot nach England durchzubrechen. Daraufhin warf die deutsche Propaganda Estland wahrheitswidrig vor, den Feind Deutschlands zu unterstützen.13 Herr von B. fürchtete einen ähnlichen "Verrat" der Esten an den Deutschen auch für den Fall einer Auseinandersetzung mit der Sowjetunion.

Die große Mehrheit der Deutschbalten, etwa 50.000 aus Lettland und 14.000 aus Estland, verließ im Zuge der Hauptumsiedlungsaktion im Oktober 1939 ihre Heimat.14 Im Juni 1940 besetzte dann tatsächlich die Sowjetunion das Baltikum, das im Hitler-Stalin-Pakt ihrer Einflusssphäre zugeschlagen worden war. Die deutsch-sowjetischen Abkommen räumten den Deutschen das Recht ein, Angehörige ihrer Nationalität nach Deutschland zu holen. Deshalb fanden 1940 in Lettland und ab Januar 1941 in Lettland und in Estland zwei Nachumsiedlungsaktionen statt, mit denen noch einmal einige Tausend Deutschbalten nach Westen gelangten15 - an der letztgenannten Umsiedlungsaktion 1941 waren die beiden Berichterstatter beteiligt. Jetzt waren es der Beginn der Sowjetisierung der Region und harte Verfolgungsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Gegner des Stalin-Regimes, die viele 1939 noch skeptische Menschen bewogen, das Baltikum doch zu verlassen.16 Herr von B. und Herr B. beschreiben sehr detailliert die Schwierigkeiten, die dabei auftraten: Keine der beiden Seiten, weder die Sowjets noch die Deutschen, wollte auf dringend benötigte Spezialisten oder auf Vermögenswerte verzichten, dementsprechend hart und beschwerlich gestaltete sich das Procedere - nicht zuletzt, weil sich jetzt auch Menschen zur Umsiedlung meldeten, die nicht unbedingt als Deutsche zu betrachten waren, die aber den Sowjets entkommen wollten.17 Die beiden Berichterstatter deuten an, dass auch sie oftmals wenig Rücksicht darauf nahmen, ob eine Person nach den offiziellen Kriterien als Deutscher zu gelten hatte, wenn die betreffende Person aufgrund ihres Berufes oder sonstiger Qualifikationen für die deutschen Kriegsanstrengungen interessant erschien.18 Ähnlich handelten die sowjetischen Emissäre.19 Der Bericht illustriert das Selbstbewusstsein der vor allem aus Deutschbalten bestehenden deutschen Umsiedlungskommandos, die gegenüber ihren sowjetischen Pendants oftmals Überlegenheit verspürten.20

1 Loeber 1972, S. 767; Hehn 1982, S. 181.

2 Schröder 2001, S. 25; Loeber 1972, S. 759; Hehn 1982, S. 181.

3 Vgl. Schröder 2008, S. 129-137; Luther 1999.

4 Buddrus 2003, S. 742-753; Luther 1999, S. 86-108; Schröder 2001, S. 33f, 47.

5 Vgl. Schröder 2008, S. 129; Cerūzis 2007, S. 314f, 321-331.

6 Heither 2000, S. 201-206; Grüttner 1995, S. 32-38, 287-316.

7 Vgl. Mühlen 1987, S. 160f.

8 Vgl. Luther 1999, S. 75-77; Schröder 2008, S. 126; Schröder 2001, S. 28f; Cerūzis 2007, S. 314, 320ff., 328-331.

9 Vgl. Bosse 2008, S. 302f; Schröder 2001, S. 50-64.

10 Vgl. Loeber 1972; Hecker 1971; Bosse 2008, S. 302-305.

11 Rutowska 2010; Ziółkowska 2010; Friedrich 2010; Roth 2010, S. 13-18; Schröder 2010, S. 53.

12 Bosse 2008, S. 302-304; Roth 2010, S. 10.

13 Stegemann 1979, S. 160.

14 Bosse 2008, S. 307; Schröder 2010, S. 52f, 59-65.

15 Leniger 2006, S. 66-80; Bosse 2008, S. 307; Hehn 1982, S. 172-191; Loeber 1972, S. 255-334.

16 Bosse 2008, S. 304; Hehn 1982, S. 175; Schröder 2010, S. 61.

17 Hehn 1982, S. 183, 187-189; Bosse 2008, S. 300f.

18 Hehn 1982, S. 176f, 184-187, 191.

19 Hehn 1982, S. 183.

20 Vgl. Hehn 1982, S. 181f.


Literatur:

Bosse 2008: Lars Bosse: Vom Baltikum in den Reichsgau Wartheland. In: Michael Garleff (Hg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich. Band 1. 2. Auflage, Köln u.a. 2008, S. 297-387

Buddrus 2003: Michael Buddrus: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik. Teil 2. München 2003

Cerūzis 2007: Raimonds Cerūzis: Die deutschen Verbindungen in der Zeit der Selbständigkeit Lettlands (1918-1940). In: Hans-Dieter Handrack (Hg.): Die Korporationen als prägende gesellschaftliche Organisationen im Baltikum. Lüneburg 2010, S. 309-333

Friedrich 2010: Klaus-Peter Friedrich: Die jüdische Bevölkerung im Warthegau: Vertreibung, Ausbeutung, Ermordung. In: Neander/Sakson 2010, S. 101-116

Grüttner 1995: Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn 1995

Hehn 1982: Jürgen von Hehn: Die Umsiedlung der baltischen Deutschen - das letzte Kapitel baltisch-deutscher Geschichte. Marburg 1982

Heither 2000: Dietrich Heither: Verbündete Männer. Die deutsche Burschenschaft - Weltanschauung, Politik und Brauchtum. Köln 2000

Hiio 1993: Toomas Hiio (Red.): Studentenschaft der Universität Dorpat. Vergangenheit und Gegenwart. Tartu 1993

Leniger 2006: Markus Leniger: Nationalsozialistische "Volkstumsarbeit" und Umsiedlungspolitik 1939-1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese. Berlin 2006

Loeber 1972: Dietrich A. Loeber: Diktierte Option. Die Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 1939-1941. Neumünster 1972

Luther 1999: Rudolf Luther: Blau oder braun? Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland - VDA - im NS-Staat 1933-1937. Neumünster 1999

Luther 2004: Tammo Luther: Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938. Die Auslandsdeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalismus und Nationalsozialismus. Stuttgart 2004

Mühlen 1987: Heinz von zur Mühlen: Deutschbaltische Korporationen und die Studentenschaft der Universität Dorpat (1802-1939). In: Gert von Pistohlkors (Hg.): Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579-1979. Beiträge zu ihrer Geschichte und ihrer Wirkung im Grenzbereich zwischen West und Ost. Köln 1987, S. 151-162

Neander/Sakson 2010: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Marburg 2010

Roth 2010: Markus Roth: Nationalsozialistische Umsiedlungspolitik im besetzten Polen - Ziele, beteiligte Institutionen, Methoden und Ergebnisse. In: Neander/Sakson 2010, S. 9-20

Rutowska 2010: Maria Rutowska: Die Aussiedlung von Polen und Juden aus den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten ins Generalgouvernement in den Jahren 1939-1941. In: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Marburg 2010, S. 43-51

Schröder 2001: Matthias Schröder: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlassov. "Russland kann nur von Russen besiegt werden". Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die "Russische Befreiungsarmee" 1942-1945. Paderborn 2001

Schröder 2008: Matthias Schröder: Die deutschbaltische nationalsozialistische "Bewegung" in Lettland unter Erhard Kröger. In: Michael Garleff (Hg.): Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich. Band 2. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 121-150

Schröder 2010: Matthias Schröder: "Rettung von dem Bolschewismus"? Die Ansiedlung der Deutschbalten im Warthegau. In: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Marburg 2010, S. 52-65

Stegemann 1979: Bernd Stegemann: Die erste Phase der Seekriegsführung bis zum Frühjahr 1940. In: Klaus A. Maier (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 2. Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent. Stuttgart 1979, S. 159-185

Ziółkowska 2010: Anna Ziółkowska: Die Situation der Polen im Warthegau. In: Neander/Sakson 2010, S. 92-100

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