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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Die Ereignisse unserer Flucht ab Januar 1945 bis März 1947

Autorin: Frida R.

Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, maschinenschriftl. Manuskript, 4 Seiten

Entstehungsort und -zeit: Vreden, Nordrhein-Westfalen, Juni 1956

Entstehungszusammenhang: Bericht für den Sohn

Zeitraum der Schilderung: 1945-1947

Schlagworte: Krankheit, Kriegsgefangene, Lebensmittelversorgung, Treck, Typhus, Wohnverhältnisse

Geographische Schlagworte: Danzig, Groß Mausdorf, Ellerbruch, Pommern, Stolp, Kiel, Vreden

Konkordanz: Groß Mausdorf → Myszewo, heute Stadtteil von Nowy Staw, Polen; Ellerbruch → Olszanka; Virchenzin → Wierzchocino, Revierförsterei bei Smołdzino; Stolp → Słupsk; Schojow → Zgojewo; Schwerinshöhe → Żelkowo

Fundort: Museum Haus Hansestadt Danzig, Lübeck, Signatur: 1.12.049, https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/museum-haus-hansestadt-danzig

Editionsmodus: vollständiges Digitalisat


Inhalt:

Die Autorin berichtet von ihrer Flucht aus dem zwischen Elbing (Elbląg) und Danzig gelegenen Groß Mausdorf im Januar 1945. Sie beschreibt die einzelnen Stationen ihres Fluchtweges, der sie mit Trecks über die Danziger Höhe bis nach Pommern in die Nähe Stolps führte. Dort blieb sie bis zum März 1947. Die Lebensverhältnisse beschreibt sie kursorisch. Schließlich konnte sie über verschiedene Stationen in der Sowjetischen Besatzungszone nach Westdeutschland ausreisen.


Einordnung/Kommentar:

Die Autorin beschreibt eine für das Kriegsende im Osten des Deutschen Reiches nicht untypische Evakuierung. Offenbar existierten für ihren Wohnort Evakuierungspläne, die sich an militärischen Gepflogenheiten, Nützlichkeitserwägungen und dem in der gegebenen Situation Machbaren orientierten. Zivilisten sollten aus ihren Wohnorten dann evakuiert werden, wenn die Front nahte. Ziel war es nicht, die Zivilbevölkerung weiträumig und langfristig vor einer feindlichen Besetzung ihrer Heimatregion in Sicherheit zu bringen. Vielmehr sollte, wie seit dem Ersten Weltkrieg bei größeren Kampfhandlungen üblich, die Kampfzone geräumt werden, um den Truppen ungestörte Operationen zu ermöglichen. Die Bevölkerung sollte sich deshalb mit eigenen Verkehrsmitteln - in der Regel die auch von Frau R. genannten, leicht modifizierten landwirtschaftlichen Fuhrwerke - in ihnen zuvor zugewiesene Auffangräume begeben. Diese Räume lagen meist nur wenige Kilometer von der erwarteten Hauptkampflinie entfernt. Die Zivilisten, insbesondere die in der Landwirtschaft und in kriegswichtigen Industrien Tätigen, sollten möglichst schnell an ihre Arbeitsplätze zurückkehren können. Dies sollte zudem die Unterbringungs- und Versorgungsproblematik entschärfen. Geordnete Transporte zehntausender Menschen über größere Entfernungen wären angesichts der Kriegslage, der absoluten Priorität für militärische Transporte, des Brennstoffmangels und der Zerstörung vieler wichtiger Verkehrsknotenpunkte auch kaum möglich gewesen.1

Frau R.'s Bericht belegt deutlich das Scheitern dieser Konzeption. Zum einen wurde selbst diese begrenzte Evakuierung nicht ausreichend vorbereitet. Zwar wurde nicht kriegswichtigen Personen oft frühzeitig die Reise nach Westen gestattet. Dies betraf beispielsweise Mütter mit kleinen Kindern, welche eine Anlaufstelle vorweisen konnten2 wie die im Bericht erwähnte Traute, die bei ihrer Schwester untergekommen war. Generell wurde jedoch auch aus propagandistischen Rücksichten weiterhin der Glaube an den "Endsieg" geschürt und Verteidigungsanstrengungen wie Schanzarbeiten oder die Aufstellung des Volkssturms forciert. Fluchtvorbereitungen wie beispielsweise das Umrüsten von Wagen für winterliche Reisen oder das Bereitstellen von Fluchtgepäck galten hingegen als defätistisch und wurden lange Zeit verboten.

Die Folgen dieses Behördenverhaltens lassen sich an Frau R.'s Bericht ablesen. Die Evakuierung war offenbar theoretisch so detailliert vorbereitet worden, dass jeder Familie, die kein eigenes Fuhrwerk besaß, Plätze in Gefährten anderer Dorfbewohner zugewiesen worden waren. Auch die Aufnahmeregion war präzise festgelegt worden. Diese Zuweisung scheint auch umgesetzt worden zu sein, wie die gemeinsame Unterbringung der Dorfgemeinschaft aus Groß Mausdorf zeigt. Andere Aspekte der praktischen Umsetzung der Evakuierung scheiterten hingegen daran, dass die Abfahrt aus Groß Mausdorf zu überstürzt angeordnet wurde. Familie R. konnte das ihr zugeteilte Fuhrwerk nicht nutzen, da es noch nicht ausreichen winterfest gemacht worden war, das Vieh blieb unversorgt zurück, für die Reise konnten keine Lebensmittel mehr beschafft werden. Der Evakuierungsbefehl wurde am frühen Morgen des 24. Januar 1945 gegeben - an diesem Tag erreichten die russischen Panzer bereits das nur 26 Kilometer entfernte Elbing.3 Offenbar überforderte das Tempo des am 12. Januar begonnenen Vorstoßes der Roten Armee die deutschen Behörden so sehr, dass sie die notwendigen Evakuierungsvorbereitungen nicht rechtzeitig anordneten.4

Laut Frau R. brauchte der 60 Wagen umfassende Treck zweieinhalb Tage bis zum Aufnahmeort Ellerbruch, wo sie vier Wochen blieben, bis sie anrückendem Militär weichen mussten und eine Woche weiterfuhren bis vor Köslin. Die Lenkung der Trecks oblag einem Major S., wobei unklar bleibt in welcher Funktion diese Leitung übernahm.5 Frau R. nennt kaum Details der beschwerlichen Flucht mit Tochter (?) und deren kleinen Kindern bei zweistelligen Minusgraden und überfüllten Straßen, die wiederholt zu Umwegen zwangen bis der Treck, wie sehr viele andere auch, von der Roten Armee überholt wurde. Frau R. und anscheinend auch einige andere Groß Mausdorfer versuchten offenbar nicht wie viele andere von der Roten Armee "überrollten" Flüchtlinge, in ihr Heimatdorf zurückzukehren, sondern blieben an Ort und Stelle und richteten sich im nächstgelegenen Dorf ein. Die nächsten Stationen bringen recht unterschiedliche Verhältnisse und Erfahrungen mit sich, eine Typhuserkrankung, weiter Ungewissheit über den Aufenthalt der Söhne, die schlechte Versorgungslage, obwohl Frau R. auch betont, es sei ihr und ihren Angehörigen "gut" gegangen oder sie hätten zumindest "keine Not gelitten". Die folgenden anderthalb Jahre bis zur Ausreise im Januar 1947 lebte die Familie in äußerst ärmlichen Umständen, ohne dass Frau R. viele Details nennt. Die Ausreise mit dem Zug über Posen/Poznań nach Sachsen verlief offenbar stockend, aber ohne ernste Zwischenfälle, und es folgten mehrere kurze Aufenthalte bis die Autorin schließlich zu Angehörigen nach Vreden in Schleswig-Holstein gelangte.


1 Schwendemann 2004, S. 127-129, 137-139, 146; Kabath, Forstmeier 1963, S. 220f, 282, 313, 317, 416, 420.

2 Kabath, Forstmeier 1963, 279f

3 Schenk 2000, S. 255.

4 Vgl. Schwendemann 2004, S. 129

5 Vgl. Mammach 1981, S. 30.


Literatur:

Engelhardt 2001: Michael von Engelhardt: Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Biographieverläufe von Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkrieges. München 2001

Kabath, Forstmeier 1963: Rudolf Kabath, Friedrich Forstmeier: Die Rolle der Seebrückenköpfe beim Kampf um Ostpreußen 1944-1945. In: Hans Meier-Welcker (Hg.): Abwehrkämpfe am Nordflügel der Ostfront 1944-1945. Stuttgart 1963, S. 215-551

Loew 2011: Peter Oliver Loew: Danzig. Biographie einer Stadt. München 2011

Mammach 1981: Klaus Mammach: Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45. Köln 1981

Schenk 2000: Dieter Schenk: Hitlers Mann in Danzig. Albert Forster und die NS-Verbrechen in Danzig-Westpreußen. Bonn 2000

Schwendemann 2004: Heinrich Schwendemann: Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45. In: Bernd-A. Rusinek (Hg.): Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive. Göttingen 2004, S. 125-150

Siegler 1991: Hans Georg Siegler: Danzig. Chronik eines Jahrtausends. Düsseldorf 1991