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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Persönliche Erinnerungen aus Kriegs- und Nachkriegsjahren

Autor/Autorin: Ingrid K., geb. ca. 1938/40 in Breslau, Schülerin

Art: Schulaufsatz, handschriftliches Manuskript, 5 Seiten

Entstehungszeit: 04.12.1956

Entstehungszusammenhang: Schulaufsatz im Rahmen eines überregionalen Projekts1

Zeitraum der Schilderung: 1945-1947/48

Geographische Schlagworte: Schlesien, Breslau, Süderbrarup (Schleswig-Holstein), Eckholdt (wahrscheinlich Seeth-Ekholt bei Elmshorn), Hörnum auf Sylt, Pinneberg, Berlin, Niebüll

Konkordanz: Breslau→Wrocław

Archiv: Rößler-Archiv im Archiv Deutsches Gedächtnis, Lüdenscheid, Signatur O.Sch. Flensburg U; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/archiv-deutsches-gedaechtnis

Editionsmodus: Vollständiges Digitalisat, Vollständiges Transkript


Inhalt:

Ingrid K. beginnt ihren Schulaufsatz mit einer Reflexion zu den Ursachen von Krieg und kritisiert die mangelnde Hilfsbereitschaft der Menschen. Sie schildert knapp ihre Erinnerungen an einen Bombenangriff auf Breslau und die Flucht der Familie am 21. Januar 1945 mit der Eisenbahn über Berlin nach Schleswig-Holstein. Daran schließen sich Schilderungen von Not und Entbehrungen in der Nachkriegszeit an. Herausgehoben wird der Aufenthalt der Familie im Flüchtlingslager auf Sylt.


Einordnung/Kommentar:

Die Autorin macht deutlich, wie schwer ihr die Erinnerung an Kriegsende, Flucht und Nachkriegszeit, die sie als Sechs- bis Zehnjährige erlebte, zehn Jahre später fällt. Dies lässt auf anhaltende psychische Nachwirkungen negativer Erlebnisse schließen. In Forschung und Öffentlichkeit werden kriegsbedingte Traumata von Heranwachsenden erst seit Beginn der 2000er Jahre intensiver thematisiert.2

Die Erlebnisse von Ingrid K. gehören nicht zu den drastischsten Kriegs- und Flüchtlingsschicksalen. Ihre Heimatstadt Breslau galt aufgrund ihrer frontfernen Lage lange als "Luftschutzkeller des Reiches"3, hier wurden zahlreiche Kinder und Ausgebombte aus gefährdeteren Regionen einquartiert.4 Die Stadt wurde erstmals am 11. Oktober 1944 und dann wieder am 18. Januar 1945 schwerer bombardiert.5 Am 19./20. Januar 1945 ordnete der Kommandeur Breslaus wegen des unmittelbar bevorstehenden Angriffs der Roten Armee die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus der zur Festung erklärten Stadt an. Familie K. gelang am 21. Januar gerade noch die Abreise mit dem Zug, denn bereits am 22. Januar fuhren keine Züge mehr. Weite Teile der Bevölkerung verließen die Stadt daraufhin unter den widrigsten Bedingungen und oft zu Fuß. Die häufig genannte Zahl von bis zu 90.000 Todesopfern kann aber bis heute nicht als gesichert gelten.6

Familie K. gelang es, beinahe vollzählig mit dem Zug zu Verwandten in Norddeutschland zu fahren, nur die Großeltern mussten zurückgelassen werden. Die Familie wurde später in einem Flüchtlingslager untergebracht, weil der Vater, der anders als die meisten Flüchtlinge schnell Arbeit fand, nach Sylt versetzt wurde. Die Ernährungslage war in der gesamten britischen Besatzungszone schlecht - zeitweise erhielten Erwachsene weniger als 1.000 Kalorien täglich.7 Die Autorin musste deshalb wie viele Stadtbewohner in dieser Zeit zusammen mit ihrer Mutter auf dem Festland "hamstern" sowie auf Feldern und bei Bauern Lebensmittel "organisieren" gehen.8 Weitaus mehr als eigene Gewalterfahrungen stehen für sie die Demütigung durch Erlebnisse wie das Hamstern und insbesondere die mangelnde Solidarität der Menschen im Zentrum des Negativen, das sie mit Kriegsende und Nachkriegszeit verbindet. Damit beschreibt sie eine Grunderfahrung der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der sich "[d]ie unlängst viel beschworene Formel von der 'Volksgemeinschaft' [...] endgültig als Irreführung"9 erwies.

1 Roeßler 1957; Abels, Krüger, Rohrmann 1989.

2 Teetz 2010; Stambolis, Pfau 2006, S. 263-279.

3 Elze 1993, S. 113.

4 Thum 2006, S. 18; Vgl. Groehler 1990, S. 264-283.

5 Elze 1993, S. 113; Davies, Moorhouse 2002, S. 502.

6 Hahn, Hahn 2010, S. 282-291, 704; Davies, Moorhouse, 2002, S. 29-31, 504; Thum 2006, S. 20; Lucas-Busemann 1994, S. 63-74.

7 Trittel 1990, S. 44ff; Stüber 1984, S. 71, 799, 810-812.

8 Vgl. Stüber 1984, S. 587f; Gietzelt 1997, S. 11-16; Zeichen der Not 1989; Wehler 2009, S. 952.

9 Wehler 2009, S. 953.

Literatur:

Abels, Krüger, Rohrmann 1989: Heinz Abels, Heinz-Hermann Krüger, Hartmut Rohrmann: "Jugend im Erziehungsfeld". Schüleraufsätze aus den fünfziger Jahren im Roeßler-Archiv. In: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 2/1989, S. 139-151

Davies, Moorhouse 2002: Norman Davies, Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau - Wroclaw - Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002

Elze 1993: Günter Elze: Breslau. Biographie einer deutschen Stadt. Leer 1993

Gietzelt 1997: Martin Gietzelt: Schleswig-Holstein - Flüchtlingsland Nr. 1. In: Willy Diercks (Hg.): Flüchtlingsland Schleswig-Holstein. Erlebnisberichte vom Neuanfang. Heide 1997, S. 11-16

Groehler 1990: Olaf Groehler: Bombenkrieg gegen Deutschland. Berlin 1990

Hahn, Hahn 2010: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertriebenen im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010

Lucas-Busemann 1994: Erhard Lucas-Busemann: So fielen Königsberg und Breslau. Nachdenken über eine Katastrophe ein halbes Jahrhundert danach. Berlin 1994

Roeßler 1957: Wilhelm Roeßler: Jugend im Erziehungsfeld. Haltung und Verhalten der deutschen Jugend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Beruecksichtigung der westdeutschen Jugend der Gegenwart. Düsseldorf 1957

Stambolis, Pfau 2006: Barbara Stambolis, Dieter Pfau: Flüchtlingskindheit. Erfahrungen und Rückblicke auf ein "erfolgreiches Leben". In: Hans-Heino Ewers, Jana Mikota, Jürgen Reulecke, Jürgen Zinnecker (Hg.): Erinnerungen an Kriegskindheiten. Erfahrungsräume, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Weinheim, München 2006, S. 263-279

Stüber 1984: Gabriele Stüber: Der Kampf gegen den Hunger 1945 - 1950. Die Ernährungslage in der britischen Zone Deutschlands, insbesondere in Schleswig-Holstein und Hamburg. Neumünster 1984 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 6)

Teetz 2010: Christiane Teetz: Nachts kehren die Schrecken zurück. Im Alter werden die Kinder des Zweiten Weltkriegs oft von unbewältigten Traumata heimgesucht. Wie lässt sich das therapieren? In: Die Zeit No. 46, 11.11.2010

Thum 2006: Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau nach 1945. München 2006

Trittel 1990: Günter J. Trittel: Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945 - 1949). Frankfurt/Main, New York 1990

Wehler 2009: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949. Lizenzausgabe, Bonn 2009

Zeichen der Not 1989: Zeichen der Not. Als der Stahlhelm zum Kochtopf wurde. Bearbeitet von Ernst Helmut Segschneider unter Mitarbeit von Martin Westphal. Detmold 1989