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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Interview [Oberschlesien, Sachsen 1929-1987]

Autorin: Helene B., geb. 1929, leitende Angestellte in der ORWO-Filmfabrik Wolfen

Quellenbeschreibung: autobiographisches Audiointerview, Dauer: 3 Stunden

Entstehungszeit: 03.06.1987

Entstehungszusammenhang: Das Interview wurde von Dorothee Wierling im Rahmen des Oral History Projekts "Die volkseigene Erfahrung" durchgeführt.1

Entstehungsort: vermutlich Bitterfeld

Zeitraum der Schilderung: 1929-1987

Schlagworte: Kindheit, Schule, Industrie, BDM, Sanitätsdienst, sowjetische Kriegsgefangene, Flucht, Rückkehr nach Polen, Neubauern, DDR, Neuanfang, Arbeit, FDJ, Integration, Jugendorganisation

Geographische Schlagworte: Oberschlesien, Deschowitz (1936-1945 Odertal), DDR, Zschernitz, Sachsen, Wolfen, Sachsen-Anhalt

Konkordanz: Deschowitz (1936-1945 Odertal) → Zdzieszowice, Polen

Fundort: Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen - Archiv "Deutsches Gedächtnis", Signatur DDR 87; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/archiv-deutsches-gedaechtnis

Editionsmodus: Vollständiges Transkript


Inhalt:

Die Autorin berichtet von ihrer Kindheit dem kleinen, katholischen oberschlesischen Industrieort Odertal, der aufgrund eines dort ansässigen Hydrierwerks ab 1944 häufig bombardiert wurde. Die Folgen der Luftangriffe und der Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen habe sie, eine Jungmädelscharführerin, auf Distanz zum nationalsozialistischen Regime gebracht. 1945 flieht die Familie ohne den Vater nach Zschernitz in Sachsen, wo sich die Berichterstatterin niederlässt. Ihre Mutter und ihre jüngere Schwester kehren 1947 zum Vater, der als für den Wiederaufbau benötigter Spezialist in seinem Heimatort bleiben darf2, nach Oberschlesien zurück. Die Autorin beschreibt ihre berufliche Karriere als Arbeiterin und später leitende Angestellte in der Filmfabrik Wolfen (später ORWO3) sowie ihr Engagement in FDJ und SED. Die sich als Atheistin bezeichnende Autorin stellt fest, dass die unterschiedlichen Lebensläufe eine gewisse Entfremdung zu ihrer noch immer katholischen Schwester mit sich gebracht hätten.


Einordnung/Kommentar:

Das Interview mit Frau B. ist eines der wenigen Interviews mit Vertriebenen, die in der DDR geführt wurden. Neben der generellen Ablehnung der Oral History durch die Staatsführung, die um ihre Deutungshoheit über die Geschichte fürchtete4, ist dies auch darauf zurückzuführen, dass der Themenkomplex Flucht und Vertreibung in der DDR zwar nicht tabuisiert war, es den Vertriebenen aber auch nicht erlaubt wurde, sich als Vertriebene zu organisieren, öffentlich Übergriffe am und nach Kriegsende sowie während der Aussiedlungen zu thematisieren oder Rückkehrhoffnungen zu äußern. Die offizielle Erinnerungskultur der DDR ordnete, auch mit Rücksicht auf die "sozialistischen Brüdervölker", die Erfahrungen der sogenannten Umsiedler vielmehr unter die Leiden ein, die der Zweite Weltkrieg generell über die deutsche Bevölkerung gebracht hatte.5 Die DDR-Führung versuchte deshalb auf der sozialpolitischen Ebene, dieses auch innenpolitische Konfliktpotential durch die völlige Assimilation der Vertriebenen schnell zu entschärfen.6 Eine spezifische "Vertriebenen-Kultur" mit eigenen Institutionen, (Gedenk-)Veranstaltungen und Kultureinrichtungen wie in der Bundesrepublik, die auch eine entsprechende "Vertriebenen-Mentalität" nach sich zog, entstand daher nicht.7

Der Bericht von Frau B. entspricht diesem Befund. Dem FDJ-Mitglied der ersten Stunde ist jede Verlust-Rhetorik fremd. Dies könnte zusätzlich zur offiziellen Erinnerungskultur auch darauf zurück zu führen sein, dass ihre Eltern und ihre Schwester ins Elternhaus im dann polnischen Zdzieszowice zurückkehren konnten, die Familie insgesamt also geringere materielle Verluste erlitt als andere Vertriebene.

Die jahrelange Trennung von der in Polen lebenden Familie beurteilt Frau B., ganz der Diktion der DDR-Führung entsprechend8, als den Zeitumständen entsprechend "normal", als Kriegsfolge, wie sie viele Familien getroffen habe. Den in ihrer eigenen Biographie durch die Flucht entstandenen Bruch reflektiert sie nicht. Wie viele der Jugendlichen, die das Kriegsende miterlebten und danach in der DDR lebten, spricht sie völlig emotionslos von dieser Zäsur in ihrem Leben und wählt einen Erzählmodus, der dem Zuhörer suggerieren soll, sie habe stets die Kontrolle über den Verlauf ihres Lebens gehabt.9 Ihre persönliche Fluchtgeschichte ist allerdings auch nicht von Hilflosigkeit und Übergriffen geprägt. Zudem bewirkte ihre frühe Ankunft in Zschernitz, dass sie direkt nach Kriegsende zwar unter äußerst unzulänglichen, nicht jedoch so menschenunwürdigen Zuständen leben musste wie das Gros Flüchtlinge in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ).10 Sie und ihre Familienangehörigen fanden bereits Arbeit, bevor die Mehrzahl der Flüchtlinge in Sachsen und Sachsen-Anhalt eintraf. Die Mitglieder der Familie B. arbeiteten zum Teil in der Landwirtschaft, was ihre Versorgung und damit sicherlich auch den Blick auf ihre eigene Situation verbesserte.

Junge Vertriebene integrierten sich in DDR wie BRD häufig durch Engagement bei Vereinen schnell in ihre neue Heimat.11 Frau B.'s Lebenslauf bildet hier ein besonderes Beispiel für Kontinuitäten über die Vertreibung hinaus. Sie, die ehemalige NS-Jugendfunktionärin, schloss sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der in der SBZ alle anderen Jugendorganisationen verboten waren, zunächst den von der KPD angeregten und der Sowjetischen Militäradministration genehmigten "antifaschistischen Jugendausschüssen" an. Deren Aufgabe war es, im Rahmen der Volksbildung über die Verbrechen der Nationalsozialisten aufzuklären, im Dritten Reich unterdrückte Kulturformen wieder bekannt zu machen und Kader für eine zu gründende überparteiliche Jugendorganisation auszubilden. Die Ausschüsse beschränkten sich aber häufig auf ein überwiegend kulturelles Programm, wie es auch Frau B. beschreibt.12 Frau B. beteiligte sich schließlich maßgeblich an der Gründung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in Zschernitz.

Offenbar hielten weder die Kader der FDJ noch Frau B. deren Jungmädel-Vergangenheit für problematisch.13 Frau B. erklärt, bereits während des Zweiten Weltkrieges am Nationalsozialismus gezweifelt zu haben, da sie die unmenschliche Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener beobachtet habe. Derartige Berichte über "Konversionserlebnisse" sind für die in der DDR lebenden Angehörigen der "Hitlerjugend-Generation" typisch.14

Für Vertriebene in Ost und West galt gleichermaßen, dass sie oft in erster Linie durch ihre Arbeit integriert wurden.15 Auch bei Frau B. war dies der Fall, nachdem sie ihre bis dahin mit großem Aufwand vorangetriebene Schullaufbahn abgebrochen hatte, um zunächst einfache Arbeiterin zu werden. Es muss allerdings dahingestellt bleiben, ob Frau B. die Oberschule wie von ihr angegeben nur aufgrund ihrer fehlenden Lateinkenntnisse und dem Wunsch, wirtschaftlich von den Geschwistern unabhängiger zu sein, aufgab, oder ob hier eventuell ihr Engagement für die FDJ und die dort herrschende Wertschätzung der Werktätigen eine Rolle spielte. Die FDJ war in den Augen der SED-Führung auch eine Organisation zur Elitenrekrutierung, und Funktionäre sollten möglichst aus der Arbeiterschaft stammen, während der Besuch einer Oberschule eher für den jetzt skeptisch betrachteten bürgerlichen Lebensweg stand.16 Frau B.s gebrochene Biographie dürfte es ihr erleichtert haben, erneut eine Neuausrichtung ihrer Karriereplanung vorzunehmen und sich in eine neues Milieu zu integrieren.

Die von Frau B. insbesondere in Chören als FDJ-Funktionärin geleistete Kulturarbeit entspricht dem "Bitterfelder Weg", mit dem die SED in den 1950er Jahren "kulturelle Massenarbeit" leisten und durch künstlerische Laienarbeit in den Betrieben an das Engagement der KPD in der Weimarer Republik anknüpfen wollte.17

Frau B. gibt an, bereits wenige Monate nach ihrer Ankunft einen Lebensweg jenseits von Industrie und Oberschule ausgeschlagen zu haben. Ihr sei eine Neubauernstelle angeboten worden, was sie aber abgelehnt habe, da sie weiter zur Schule habe gehen wollen. Die Behörden in der SBZ versuchten 1945-1948, durch die Enteignung von Landgütern und die Verteilung des Bodens an so genannte Neubauern auch in der Landwirtschaft neue Eigentums- und damit Sozialstruktur zu schaffen. Die Vertriebenen wurden in diese Maßnahme einbezogen, um ihre soziale und wirtschaftliche Integration zu beschleunigen. Viele Flüchtlinge standen dem jedoch skeptisch gegenüber, da sie darauf hofften, in ihre alte Heimat zurückkehren zu können. Sie wollten sich daher in der SBZ nicht binden; 18 die meisten Neubauern mussten ihr Land im Zuge der Kollektivierung Anfang der 1950er Jahre wieder abgeben.

1 Niethammer 1991, S. 15-17, 50-54; Wierling 1993, S. 109-111.

2 Vgl. Esch 1998, S. 297f, 306, 313, 398f; Gafert 2011, S. 69-71.

3 Vgl. Karlsch, Wagner 2010.

4 Niethammer 1991, S. 10.

5 Hahn, Hahn 2010, S. 576f; Vgl. Hoffmann, Wille, Meinicke 1993, S. 15-18, 23-25; Ther 1998, S. 141, 146f; Schwartz 2008, S. 640f.

6 Hoffmann, Wille, Meinicke 1993, S. 16-18, 23-25; Mehlhase 1993, S. 172f; Ther 1998, S. 139-141, 146f.

7 Hahn, Hahn 2010, S. 567-583; Schwartz 2004, S. 477-543.

8 Hahn, Hahn 2010, S. 576f.

9 Wierling 1999, S. 311, 313.

10 Vgl. Wille 1993, S. 28, 35-37; Hoffmann 1999, S. 175f; Schwab 2001, S. 32-40; Ther 1998, S. 116-118.

11 Vgl. Meindl 2012; Hoffmann, Wille, Meinicke 1993, S. 23.

12 Mählert, Stephan 1996, S. 18-21, 28; Mählert 1995, S. 26-79; Vgl. Bauerkämper 2005, S. 103.

13 Vgl. Wierling 1993, S. 107, 118.

14 Wierling 1999, S. 312.

15 Vgl. Ther 1998, S. 265-269; Schwartz 2008, S. 642.

16 Vgl. Bauerkämper 2005, S. 11f, 27-30, 39-42; Niethammer 1991, S. 44f; Mählert, Stephan 1996, S. 124.

17 Bauerkämper 2005, S. 25.

18 Bauerkämper 1999; Meinicke 1993, S. 59; Ther 1998, S. 263; Hoffmann 1999, S. 180.


Literatur:

Bauerkämper 1999: Arnd Bauerkämper: Die vorgetäuschte Integration. Die Auswirkungen der Bodenreform und Flüchtlingssiedlung auf die berufliche Eingliederung von Vertriebenen in die Landwirtschaft in Deutschland 1945-1960. In: Dierk Hoffmann, Michael Schwartz (Hg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR. München 1999, S. 193-214

Bauerkämper 2005: Arnd Bauerkämper: Die Sozialgeschichte der DDR (Enzyklopädie deutscher Geschichte 76). München 2005

Esch 1998: Michael G. Esch: "Gesunde Verhältnisse". Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950. Marburg 1998

Gafert 2011: Bärbel Gafert: Am Ende von Flucht und Massenvertreibung - die "Sondertransporte" ab 1947/48. Teil I: Transporte mit Kindern und Bergleuten. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 28/2011, S. 55-74

Hahn, Hahn 2010: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertriebenen im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010

Hoffmann, Wille, Meinicke 1993: Johannes Hoffmann, Manfred Wille, Wolfgang Meinicke: Flüchtlinge und Vertriebene im Spannungsfeld der SBZ-Nachkriegspolitik. In: Manfred Wille u.a. (Hg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone. Wiesbaden 1993, S. 12-26

Hoffmann 1999: Dierk Hoffmann: Vertriebenenintegration durch Arbeitsmarktlenkung? Zur Beschäftigungspolitik der SBZ/DDR (1945-1950). In: Ders., Michael Schwartz (Hg.): Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR. München 1999, S. 173-192

Karlsch, Wagner 2010: Rainer Karlsch, Rainer, Paul Werner Wagner: Die AGFA-ORWO-Story. Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihrer Nachfolger. Berlin 2010

Mählert 1995: Ulrich Mählert: Die Freie Deutsche Jugend 1945-1949. Von den "Antifaschistischen Jugendausschüssen" zur SED-Massenorganisation. Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone. Paderborn 1995

Mählert, Stephan 1996: Ulrich Mählert, Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden - rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Opladen 1996

Mehlhase 1993: Torsten Mehlhase: Die SED und die Vertriebenen. Versuche der politischen Einflussnahme und der "Umerziehung" in den ersten Nachkriegsjahren. In: Manfred Wille u.a. (Hg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone. Wiesbaden 1993, S. 159-177

Meinicke 1993: Wolfgang Meinicke: Die Bodenreform und die Vertriebenen in der SBZ und in den Anfangsjahren der DDR. In: Wille, Manfred u.a. (Hg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone. Wiesbaden 1993, S. 55-86;

Meindl 2012: Ralf Meindl: "Schlesien ist meine Heimat, in Lüdenscheid bin ich zu Hause, und ich fühle mich wohl". Flüchtlinge und Vertriebene in Lüdenscheid. In Druck [Manuskript S. 19]

Niethammer 1991: Lutz Niethammer: Glasnost privat 1987. In: Ders., Alexander von Plato, Dorothee Wierling (Hg.): Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen. Berlin 1991, S. 9-73

Schwab 2001: Irina Schwab: Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen 1945-1952. Die Rolle der Kreis- und Stadtverwaltungen bei der Aufnahme und Integration. Frankfurt/Main 2001

Schwartz 2004: Michael Schwartz: Vertriebene und "Umsiedlerpolitik". Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945 - 1961. München 2004

Schwartz 2008: Michael Schwartz: Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656

Ther 1998: Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ-DDR und in Polen 1945-1956. Göttingen 1998

Wierling 1993: Dorothee Wierling: Von der HJ zur FDJ? In: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1/1993, S. 107-118

Wierling 1999: Dorothee Wierling: The Hitler Youth Generation in the GDR: Insecurities, Ambitions and Dilemmas. In: Konrad Jarausch (Hg.): Dictatorship as Experience. Towards a Socio-Cultural History of the GDR. New York, Oxford 1999, S. 307 - 324

Wille 1993: Manfred Wille: Die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler - Möglichkeiten und Grenzen ihres Wirkens (1945-1948). In: Ders. u.a. (Hg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone. Wiesbaden 1993, S. 27-54