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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Ohne Titel [Russland 1932-1945]

Autorin: Maria W., geb. 1908

Quellenbeschreibung: Erinnerungsgeschichtliches Interview, digitalisiertes Tonband, Vollspur, 19cm/sec., BASF LGS, KL 35, 7:20 Minuten Laufzeit

Entstehungszeit und -ort: 18.09.1953 in Kassel

Zeitraum der Schilderung: 1932-1945

Schlagworte: Hungersnot, Kollektivierung, Umsiedlung, Zweiter Weltkrieg

Geographische Schlagworte: Rothammel/Wolga, Litzmannstadt/Łódź, Chemnitz, Alten an der Werra

Konkordanz: Rothammel → Pamjatnoje, Russische Föderation

Fundort: Institut für Volkskunde der Deutschen im östlichen Europa (vorm. Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde, Freiburg, Tonarchiv, Signatur: jki 0085-1_001; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/institut-fuer-volkskunde-der-deutschen-im-oestlichen-europa-vorm-johannes-kuenzig-institut-fuer-ostdeutsche-volkskunde

Editionsmodus: [vollständiges Transkript]


Inhalt:

Frau W. berichtet vom Hörensagen über die Auswirkungen der Hungersnot 1932/33 in ihrem Heimatdorf Rothammel an der Wolga, in dem sie zu dieser Zeit bereits nicht mehr lebte. Im Anschluss beantwortet sie Fragen des Interviewers zu ihrem Schicksal während des Zweiten Weltkrieges. Sie wurde nach Kriegsbeginn nicht nach Sibirien deportiert, da die deutschen Truppen ihren Wohnort Minsk zu schnell erreichten. Im März 1943 wurde sie nach Litzmannstadt/Łódź umgesiedelt. Von Februar bis März 1944 lebte sie in Chemnitz, dann flüchtete sie nach Westdeutschland.


Einordnung/Kommentar:

Die Hungersnot der Jahre 1932/33, von der Frau W. eingangs berichtet, entstand aufgrund des Zusammenwirkens von Missernten und politischen Maßnahmen der sowjetischen Regierung. Die Sowjetführung hatte die noch von Lenin initiierte, wirtschaftlich liberalere Neue Ökonomische Politik zugunsten einer zentral gelenkten Planwirtschaft eingestellt. Die marktwirtschaftlichen Elemente der Neuen Ökonomischen Politik, die auch für die Landwirte vorteilhaft gewesen waren und vielen Russlanddeutschen zu neuem Wohlstand verholfen hatten, wurden zurückgefahren.1 Die Bauern wurden schließlich ab dem Ende der 1920er Jahre gezwungen, ihre Selbständigkeit aufzugeben und in Kolchosen einzutreten.2 Viele Bauern leisteten dagegen Widerstand, die sowjetische Regierung ging ihrerseits mit massiver Gewalt vor. Insbesondere Großbauern, die sogenannten Kulaken, wurden verfolgt.3 Frau W.s Heimat an der Wolga gehörte dabei zu den Regionen, in denen die Kollektivierung am rigorosesten durchgeführt wurde. Hier wurden fast alle bäuerlichen Betriebe in Kolchosen überführt.4

Die Leistungsfähigkeit der russischen Landwirtschaft brach aufgrund dieser Maßnahmen dramatisch ein. Zugleich bestanden die Behörden auf hohen Ablieferungsquoten, die auch mit militärischer Gewalt und ohne Rücksicht auf den Eigenbedarf der Produzenten eingetrieben wurden. Die dürrebedingt schlechte Ernte führte dazu, dass der Landbevölkerung der produktivsten Landwirtschafsregionen nach Erfüllung der Ablieferungspflichten kaum noch Lebensmittel blieben. Eine gravierende Hungersnot, während der 1932 und 1933 mehrere Millionen Menschen verhungerten - die genaue Zahl ist bis heute umstritten -, war die Folge.5 Zahlreiche Zeitzeugenaussagen, die derjenigen Frau W.s ähneln, belegen das grausame Schicksal der Bevölkerung.6 Ehemals wohlhabende Familien hatten oft schon durch die Kulakenverfolgung so große Verluste erlitten, dass die Hungersnot sie wie die von Frau W. erwähnten Hausbesitzer besonders hart traf.7

Im Zuge der Zwangskollektivierung und der Kulakenverfolgung waren bereits zahlreiche Wolgadeutsche nach Sibirien und Zentralasien deportiert worden. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 befürchtete die Staatsführung, die deutschen Sowjetbürger könnten als "fünfte Kolonne" Hitlerdeutschlands agieren und die Kriegsführung sabotieren. Sie beschloss daher im August 1941, die bereits länger vorbereitete Deportation der Deutschen durchzuführen.8 Ein Großteil der im Westen der Sowjetunion ansässigen Deutschen entging diesem Schicksal aufgrund des schnellen Vormarsches der deutschen Truppen. Die Wolgadeutschen wurden jedoch nach Sibirien und Zentralasien gebracht, wo sie auch nach Kriegsende bleiben mussten.9 Frau W. gehörte durch ihren Umzug nach Minsk nicht zu dieser Gruppe. Minsk wurde bereits am 28. Juni 1941 von der Wehrmacht erobert, weshalb es den sowjetischen Behörden nicht gelang, die Bevölkerung vollständig zu evakuieren oder alle unerwünschten Personen zu deportieren.10 Daher konnte auch Frau W. bleiben.

Die deutschen Besatzungsbehörden führten in Minsk wie in ganz Weißrussland ein hartes Regiment. Die Versorgung der Bevölkerung lag unter dem Existenzminimum, erneut verhungerten Tausende.11 Frau W. gehörte als sogenannte "Volksdeutsche" zu einer privilegierten Gruppe, die eine bessere Versorgung genoss.12 Ihr Bericht macht allerdings deutlich, dass auch sie keine üppigen Zuteilungen erhielt. In Weißrussland lebten nur etwa 5.000 "Volksdeutsche", 1.500 von ihnen in Minsk.13 Die meisten waren wie Frau W. vor den Hungersnöten und politischen Verfolgungen der Zwischenkriegszeit nach Weißrussland geflohen. Sie bildeten also keine große und in der Region verwurzelte Gruppe, die bei den nationalsozialistischen Siedlungsplanern als Kern einer "germanischen" Neubesiedelung hätte gelten können. Daher wurden sie auch nicht von den für die Ansiedelungen zuständigen SS-Behörden betreut, sondern von der örtlichen Zivilverwaltung. Diese betrachteten sie jedoch als "verproletarisiert" und dem eigenen "Volkstum" entfremdet, weshalb sie nicht wirklich zur Germanisierung des neuen "Lebensraums im Osten" geeignet seien14 - was erklärt, warum die Minsker "Volksdeutschen" nicht großzügiger alimentiert wurden. Dennoch war ihr Überleben gesichert, im Gegensatz zu dem ungezählter Weißrussen.

Frau W. wurde wie die meisten "Volksdeutschen" der Sowjetunion, die im deutschen Herrschaftsbereich lebten, schließlich im Frühjahr 1943 in den sogenannten "Warthegau" umgesiedelt, die 1939 ins Deutsche Reich eingegliederte Region um Posen. Die Russlanddeutschen sollten nicht nur vor der Roten Armee in Sicherheit gebracht werden, sie sollten auch zur "Germanisierung" des bis 1939 polnischen Gebiets beitragen.15 Ähnlich wie für die bereits genannten zivilen Besatzungsbehörden war dies in den Augen der zuständigen SS-Dienststellen eine zentrale und ehrenhafte Zukunftsaufgabe, für die nur bestes "Menschenmaterial" eingesetzt werden sollte. Die Umsiedler wurden deshalb zunächst in Lagern untergebracht, wo sie nach rassischen und politischen Kriterien bewertet wurden. Nicht alle "Volksdeutschen" wurden für würdig befunden, sofort im neuen "Lebensraum im Osten" angesiedelt zu werden. Einige wurden zunächst ins "Altreich" gebracht, wo sie sich als "gute Deutsche" bewähren und mit der Lebensweise im nationalsozialistischen Deutschland vertraut machen sollten.16 Wahrscheinlich gehörte auch Frau W. in diese Gruppe, hatten doch bereits die deutschen Behörden in Weißrussland empfohlen, die dortigen "Volksdeutschen" als Landarbeiter ins Reich zu bringen. Frau W. fand sich deshalb nach dem nicht unüblich langen Lageraufenthalt17 in Chemnitz wieder. Dass sie kurz vor Kriegsende weiter nach Hessen flüchtete, bewahrte sie wahrscheinlich davor, das Schicksal zahlreicher anderer ehemaliger Sowjetbürger deutscher Nationalität zu teilen, die während des Krieges im deutschen Machtbereich gelebt hatten. Die Sowjets betrachteten sie weiterhin als Sowjetbürger, die repatriiert werden sollten. Zugleich beschuldigten sie diese Deutschen aber auch der Kollaboration mit dem Feind, weshalb Repatriierung die Deportation in den Osten der Sowjetunion bedeutete.18

1 Hildermeier 1998, S. 253-262; Brandes 1997, S. 152-180; Wemheuer 2012, S. 65f; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 100-102.

2 Hildermeier 1998, S. 377-401; Brandes 1997, S. 188-198; Buchsweiler 1984, S. 222-233.

3 Hildermeier 1998, S. 391-399; Brandes 1997, S. 181, 195-197.

4 Eisfeld 1992, S. 106-108; Brandes 1997, S. 194-198.

5 Davies, Wheatcroft 2004, S. 105-331, 409-441; Wemheuer 2012, S. 62-95; Hildermeier 1998, S. 399-401; Brandes 1997, S. 198f.

6 Vgl. Brandes 1997, S. 198f.

7 Brandes 1997, S. 198f.

8 Klötzel 1999, S. 121-123; Buchsweiler 1984, S. 278, 283-288; Eisfeld, Herdt 1996, S. 47-55.

9 Brandes 1997, S. 208; Kurilo 2010, S. 145-170; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 303-343.

10 Gartenschläger 2001, S. 19f; Iwanou 2001, S. 434.

11 Gerlach 1999, S. 265-318, 422-427; Lehnstaedt 2010; Gartenschläger 2001, S. 37-49; Iwanou 2001, S. 433-436.

12 Klötzel 1999, S. 130f; Gerlach 1999, S. 124f.

13 Gartenschläger 2001, S. 65; Gerlach 1999, S. 124.

14 Gerlach 1999, S. 116f, 124.

15 Gerlach 1999, S. 126f; Klötzel 1999, S. 131f; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 284-295.

16 Klötzel 1999, S. 131f.

17 Klötzel 1999, S. 131f; Gerlach 1999, S. 126f; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 291.

18 Klötzel 1999, S. 132f.


Literatur:

Brandes 1997: Detlef Brandes: Von den Verfolgungen im Ersten Weltkrieg bis zur Deportation. In: Gerd Stricker (Hg.): Rußland (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1997, S. 131-212

Buchsweiler 1984: Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs - ein Fall doppelter Loyalität? Gerlingen 1984

Davies, Wheatcroft 2004: Robert W. Davies, Stephen G. Wheatcroft: The Years of Hunger: Soviet Agriculture, 1931-1933 (The Industrialisation of Soviet Russia 5). Basingstoke 2004

Eisfeld 1992: Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen. Mit Beiträgen von Detlev Brandes und Wilhelm Kahle (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche Bd. 2). München 1992

Eisfeld, Herdt 1996: Alfred Eisfeld, Victor Herdt (Hg.): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln 1996

Gartenschläger 2001: Uwe Gartenschläger: Die Stadt Minsk während der deutschen Besetzung (1941-1944). Dortmund 2001

Gerlach 1999: Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburg 1999

Hildermeier 1998: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998

Iwanou 2001: Mikola Iwanou: Terror, Deportation, Genozid: Demographische Veränderungen in Weißrußland im 20. Jahrhundert. In: Dietrich Beyrau, Rainer Lindner (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Göttingen 2001, S. 426-436

Klötzel 1999: Lydia Klötzel: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. Die Geschichte einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses. Münster 1999

Kurilo 2010: Olga Kurilo: Die Lebenswelt der Russlanddeutschen in den Zeiten des Umbruchs (1917-1991). Ein Beitrag zur kulturellen Mobilität und zum Identitätswandel. Essen 2010

Lehnstaedt 2010: Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten - Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944. München 2010

Pinkus, Fleischhauer 1987: Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1987

Wemheuer 2012: Felix Wemheuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Berlin 2012