Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert
Ohne Titel [Russland 1920-1932]
Autorin: Maria W., geb. 1908
Quellenbeschreibung: Erinnerungsgeschichtliches Interview, digitalisiertes Tonband, Vollspur, 19cm/sec., BASF LGS KL 35, 8:17 Minuten Laufzeit
Entstehungszeit und -ort: 18.09.1953 in Kassel
Zeitraum der Schilderung: 1920-1932
Schlagworte: Landwirtschaft, Kollektivierung, Umteilung, Hungersnot
Geographische Schlagworte: Rothammel/Wolga
Konkordanz: Rothammel → Pamjatnoje, Russische Föderation
Fundort: Institut für Volkskunde der Deutschen im östlichen Europa (vorm. Johannes Künzig Institut für ostdeutsche Volkskunde), Freiburg, Tonarchiv, Signatur: jki 0084-4_003; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/institut-fuer-volkskunde-der-deutschen-im-oestlichen-europa-vorm-johannes-kuenzig-institut-fuer-ostdeutsche-volkskunde
Editionsmodus: [vollständiges Transkript]
Inhalt:
Frau W. erzählt kurz von der Herkunft ihrer Familie und der Geschichte ihres Heimatortes Rothammel an der Wolga. Dabei geht sie nur knapp auf das gute Verhältnis der an der Wolga ansässigen Deutschen zu ihren russischen Nachbarn ein. Sie beschreibt hauptsächlich die Tradition, nach der die Familien in Gemeinschaftsarbeit jedem ihrer erwachsenen Söhne ein Haus mit den notwendigen Wirtschaftsgebäuden bauten, das die Söhne nach ihrer Heirat bezogen. Der Jüngste erbte den elterlichen Hof. Diese Tradition sei mit der Kollektivierung 1930 abgebrochen.
Frau W. erwähnt kurz die Hungersnöte 1921, 1924 und 1932, deren Folgen und die der Kollektivierung sie schließlich gezwungen hätten, ihre Heimat zu verlassen und nach Minsk umzuziehen, wo sie als Landarbeiterin lebte.
Einordnung/Kommentar:
Die Quelle ist ein Beispiel für ein geleitetes Interview. Der Interviewer hat sich offensichtlich vorbereitet und kennt die Lebensgeschichte von Frau W. bereits. Sein Ziel ist es, eine Reihe konkreter Informationen zu erfragen beziehungsweise von einer Zeitzeugin bestätigen zu lassen. An einer freien, assoziativen Erzählung durch Frau W. hat er kein Interesse. Aufgrund dieser Interviewtechnik muss der Interviewer auf über sein Erkenntnisinteresse hinausgehende Informationen verzichten. Außerdem besteht die Gefahr, dass der Interviewer der Interviewten Antworten in den Mund legt, beispielsweise wenn er in seiner Frage bereits suggeriert, dass eine Rückkehr von Frau W. in ihr Heimatdorf nach 1932 nicht mehr möglich gewesen sei. Frau W. nimmt diese Antwort auf, sie äußert sich aber nicht dazu, ob sie an eine solche Möglichkeit geglaubt oder überhaupt eine dauerhafte Rückkehr erwogen hatte. Insgesamt tritt durch diese Fragetechnik die persönliche Lebensgeschichte Frau W.s hinter die vom Interviewer erfragten Informationen zur allgemeinen Lebenssituation und zur Geschichte der Deutschen an der Wolga zurück.
Frau W. ist, wie viele Russlanddeutsche, mit der Geschichte ihres Heimatortes Rothammel vertraut. Die deutschen Kolonien im Wolgagebiet wurden Ende des 18. Jahrhunderts auf Initiative der zaristischen Verwaltung angelegt.1 Die Ortschaften erhielten zunächst keine Namen, was im Alltag unpraktisch war. Es bot sich an, die Orte anhand ihrer Ortsvorsteher zu unterscheiden. Aus dieser Gewohnheit entstanden Ortsnamen, gegen die sich spätere Namensvorschläge der russischen Behörden nicht durchsetzen konnten.2 Der erste Vorsteher der Kolonie, aus der Frau W. stammt, Adam Rothammel, traf dort am 21. August 1767 mit den meisten anderen Angehörigen der ersten Siedlergeneration ein. Während insgesamt etwa zwei Drittel der Russlanddeutschen evangelischer Konfession waren, handelte es sich hier um eine ausschließlich katholische Gruppe, deren Mitglieder fast alle aus der Rheinebene und angrenzenden Regionen ausgewandert waren.3 Unter ihnen finden sich offenbar auch der von Frau W. erwähnte Vorfahre ihres Mannes, der aus Villmar in Hessen stammte, sowie ihre eigenen Vorfahren.4 Die Namensgleichheiten zwischen den ersten Siedlern und den Bewohnern Rothammels in den 1930er Jahren sind darauf zurückzuführen, dass die meisten Russlanddeutschen ihre Ehepartner in ihrem näheren sozialen Umfeld fanden und nur selten ihren Wohnort wechselten. Deshalb bildeten einige wenige Familien über Generationen hinweg die Gemeinden.5 Rothammel lag am Rande des von Deutschen besiedelten Gebietes und hatte daher, wie von Frau W. angesprochen, mehrere russische Nachbargemeinden.6
Die Wirtschaftsweise der Wolgadeutschen unterschied sich weniger stark von derjenigen ihrer russischen Nachbarn als dies in anderen deutschen Ansiedlungsgebieten im Zarenreich der Fall war.7 Die Wolgadeutschen hatten für ihre Kommunen sogar die russische Mir-Verfassung übernommen, die eine regelmäßige Umteilung des Bodens vorsah. Der Boden der Gemeinde wurde als Gemeineigentum angesehen und immer wieder neu auf die Familien des Dorfes verteilt. Berechnungsgrundlage der Zuweisung war die Anzahl der männlichen Familienmitglieder. Diese Regelung wurde durch die Landreform des russischen Premierministers Pjotr Stolypin 1906-1910 zwar aufgehoben, sie wurde 1917 aber sowohl von russischen als auch von wolgadeutschen Dörfern de facto wieder eingeführt und von einer Landreform 1920 sanktioniert.8
Die Umteilung machte den von Frau W. beschriebenen Brauch möglich, dass frisch Verheirateten von der Familie ein Wohnhaus und die dazugehörigen Wirtschaftsgebäude errichtet wurden - den für den Betrieb eines Hofes notwendigen Boden erhielt das Hochzeitspaar bei der nächsten Umteilung.9 Das von Frau W. erwähnte Erbrecht des jüngsten Sohnes am elterlichen Hof, das sogenannte Minorat, widersprach den Traditionen der süddeutschen Heimat der Siedler Rothammels, in der entweder die Erbteilung oder aber das Majorat, also die Weitergabe des ungeteilten Besitzes an den ältesten Sohn, üblich waren. Die Regelung ging auf eine Anordnung Katharinas II. zurück, die eine Erbfolge für Kolonien schaffen wollte, die keine Umteilungsgemeinden waren. Mit ihr sollte eine Zersplitterung des Besitzes verhindert werden. Dies traf zunächst auch auf die Wolgadeutschen zu, die zunächst nur teilweise russischem Recht unterstanden. Sie waren von der Zarin durch Privilegien zur Ansiedlung motiviert worden und übernahmen erst im Laufe der Zeit das Mir-System.10
Vielen deutschen Ansiedlern im Zarenreich gelang es dank der steuerlichen Privilegien und ihrer aus Deutschland mitgebrachten modernen Wirtschaftsweisen, sich in der Landwirtschaft größeren Wohlstand zu erarbeiten.11 An der Wolga war dies aufgrund des Mir-Systems, das eine größere Kapitalakkumulation bei Einzelnen verhinderte und langfristige Investitionen unattraktiv machte, ausgesprochen selten.12 Hier waren im 19. Jahrhundert sogar Hungersnöte zu beobachten.13 Auch gelang es den meisten Familien erst nach längerer Zeit oder auch gar nicht, wie von Frau W. beschrieben, jedem heiratenden Sohn einen eigenen Hof zu errichten. Viele Familien lebten daher in beengten Verhältnissen.
Die von Frau W. angesprochenen Hungersnöte jeweils zu Beginn der 1920er und 1930er Jahre resultierten aus politischen und kriegerischen Entwicklungen - Frau W. beschreibt ihre Auswirkungen in einem weiteren Interview ausführlicher.14 Die Hungersnot 1920/21 entstand am Ende des russischen Bürgerkriegs durch das Zusammenspiel dürrebedingter Missernten und der rigiden Requirierungen landwirtschaftlicher Güter durch die Rote Armee.15 1924 verhinderte schlechtes Wetter vor allem im Wolga-Gebiet eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung.16 1932/33 waren es die Folgen einer gewaltsamen Umstellung des Wirtschaftssystems, welche die witterungsbedingten Ernteausfälle zu einer katastrophalen Hungersnot auswachsen ließ.17 Die Bauern sollten, wie von Frau W. angedeutet, nicht mehr selbständig wirtschaften, sondern ihren Besitz in Kolchosen einbringen und für diese arbeiten.18 Diesen Schritt ging kaum ein Landwirt freiwillig, auch viele Wolgadeutsche wehrten sich vehement gegen die Zwangseingliederung in die Kolchosen.19 Die sowjetische Regierung setzte die Reform deshalb mit Gewalt durch. Zu ihren Mitteln gehörte es, auch das spricht Frau W. an, widerständige oder angeblich widerständige Bauern nach Sibirien zu deportieren.20
Die Hungersnöte und die bauernfeindliche Politik der Sowjetunion veranlassten viele Wolgadeutsche, ihre Heimat zu verlassen. Einige suchten wie Frau W. innerhalb Russlands nach einer neuen Existenz, andere wanderten aus, meist nach Übersee.21 Frau W.s Bericht zeigt, dass die Enteignung der Höfe auch zu einer Entfremdung der Menschen von ihren Heimatgemeinden und ihrem Herkunftsmilieu führte. Angesichts der Hungersnot waren sie nun bereit, ihre Heimatregionen zu verlassen und in anderen Regionen der Sowjetunion nach besseren materiellen Verhältnissen zu suchen - ein Schritt, der ihnen, wie Frau W. deutlich macht, nicht leicht fiel.
1 Klötzel 1999, S. 27-33.
2 Beratz 1923, S. 61f.
3 Beratz 1923, S. 290; Klötzel 1999, S. 31; Schippan, Striegitz 1992, S. 35-37.
4 Pleve, Eisfeld 2008, S. 81-87; Vgl. Brandes 1997 a, S. 55.
5 Busch 1997, S. 547.
6 Vgl. Habenicht 1981, S. 147-151.
7 Brandes 1997 a, S. 64.
8 Malinovskij 1994, S. 48-50, 56; Voronežcev 2010, S. 118.
9 Vgl. Habenicht, S. 152.
10 Malinovskij 1994, S. 48f.
11 Buchsweiler 1984, S. 111; Fleischhauer 1986, S. 89-119; Klötzel 1999, S. 29f.
12 Malinovskij 1994, S. 51, 55.
13 Malinovskij 1994, S. 59.
14 s. /62835.html
15 Brandes 1997 b, S. 137-145; Wemheuer 2012, S. 27-45; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 94.
16 Kurilo 2010, S. 120.
17 Davies, Wheatcroft 2004, S. 409-441; Wemheuer 2012, S. 62-95; Brandes 1997 b, S. 198-200; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 95; Hildermeier 1998, S. 399-401.
18 Brandes 1997 b, S. 188-198; Hildermeier 1998, S. 377-400.
19 Brandes 1997 b, S. 194f.
20 Vgl. Brandes 1997 b, S. 197.
21 Brandes 1997 b, S. 144, 181-188, 198; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 95; Kurilo 2010, S. 131.
Literatur:
Beratz 1923: Gottlieb Beratz: Die deutschen Kolonien an der unteren Wolga in ihrer Entstehung und ersten Entwickelung. Gedenkblätter zur 150. Jahreswende der Ankunft der ersten deutschen Ansiedler an der Wolga, 29. Juni 1794 - 29. Juni 1913. 2. Auflage, Berlin 1923
Brandes 1997 a: Detlef Brandes: Einwanderung und Entwicklung der Kolonien. In: Gerd Stricker (Hg.): Rußland (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1997, S. 35-110
Brandes 1997 b: Detlef Brandes: Von den Verfolgungen im Ersten Weltkrieg bis zur Deportation. In: Gerd Stricker (Hg.): Rußland (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1997, S. 131-212
Buchsweiler 1984: Meir Buchsweiler: Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs - ein Fall doppelter Loyalität? Gerlingen 1984
Busch 1997: Margarete Busch: Brauchtum und Geselligkeit. In: Gerd Stricker (Hg.): Rußland (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1997, S. 539-584
Davies, Wheatcroft 2004: Robert W. Davies, Stephen G. Wheatcroft: The Years of Hunger: Soviet Agriculture, 1931-1933 (The Industrialisation of Soviet Russia 5). Basingstoke 2004
Fleischhauer 1986: Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft. Stuttgart 1986
Habenicht 1981: Gottfried Habenicht: Die wolgadeutsche Hochzeit. Dargestellt am Beispiel der Gemeinde Rothammel. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 24/1981, S. 144-193
Hildermeier 1998: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998
Klötzel 1999: Lydia Klötzel: Die Russlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. Die Geschichte einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses. Münster 1999
Kurilo 2010: Olga Kurilo: Die Lebenswelt der Russlanddeutschen in den Zeiten des Umbruchs (1917-1991). Ein Beitrag zur kulturellen Mobilität und zum Identitätswandel. Essen 2010
Malinovskij 1994: Lev Malinovskij: Die Eigentumsformen bei den rußlanddeutschen Bauern im 18. und 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Siedlungen. In: Dittmar Dahlmann, Ralph Tuchtenhagen (Hg.): Zwischen Reform und Revolution. Die Deutschen an der Wolga 1860-1917. Essen 1994, S. 48-60
Pinkus, Fleischhauer 1987: Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1987
Pleve, Eisfeld 2008: Igor R. Pleve (Bearb.), Alfred Eisfeld (Hg.): Einwanderung in das Wolgagebiet 1764-1767. Band 4 Kolonien Reinhardt-Warenburg. Göttingen 2008
Schippan, Striegitz 1992: Michael Schippan, Sonja Striegitz: Wolgadeutsche. Geschichte und Gegenwart. Berlin 1992
Wemheuer 2012: Felix Wemheuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Berlin 2012
Voronežcev 2010: Aleksej Voronežcev: Bauernschaft, Bauerngemeinde und Geistlichkeit im Wolgagebiet während der Stolypinschen Agrarreform (am Beispiel von Quellen aus dem Staatsarchiv des Gebietes Saratov). In: Victor Herdt, Dietmar Neutatz (Hg.): Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga. Wiesbaden 2010, S. 118-139