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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Fragebogen [Posen, 1915-1938]

Autorin: Margarete B., geb. 1891 in Wunschheim (Wieszki, heute Stadtteil von Nakłonad Notecią, Polen), Westpreußen, Lehrerin

Quellenbeschreibung: zwei handschriftlich ausgefüllte maschinenschriftliche Fragebögen mit Anlagen, insgesamt 9 Blatt (16 Seiten); 1 Porträtfoto, ein Zeitungsausschnitt, 2 maschinenschriftliche Abschriften in der Anlage

Entstehungszeit: 1956

Entstehungszusammenhang: Paul Jendrike (1888-1966), von 1922 bis 1939 Vorsitzender des Landesverbandes deutscher Lehrer und Lehrerinnen in Polen, versandte zwischen 1949 und 1966 Fragebögen an die ehemaligen Mitglieder seines Verbandes, in denen er sie nach ihrem persönlichen Werdegang, der Geschichte ihrer Schulen und ihrer Schulorte, deren Stellung im Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten innerhalb Polens, dem Grad der Organisiertheit der deutschen Bevölkerungsgruppe und deren politischer Haltung befragte sowie nach der Unterrichtssituation, der Unterrichtssprache, der sozialen Zusammensetzung und dem schulischen Werdegang der Schüler. Margarete B. füllte zwei dieser Fragebögen aus, da sie an zwei Schulorten tätig gewesen war.

Entstehungsort: Berlin (West)

Zeitraum der Schilderung: 1915-1938

Personen: Julian Will (1880-1941), Abgeordneter im schlesischen Sejm (Block der Nationalen Minderheiten), Lehrer, Schulleiter1; Johannes Theodor Rudolf Kögel (1829-1996), evangelischer Theologe; Oscar Tietz (1858-1923), Kaufhausgründer (Hertie); Carl Hermann Busse (1872-1918), Lyriker; Georg Busse-Palma (1876-1915), Literat; Franz Jüttner (1865-1925), Illustrator und Karikaturist; Richard Czerwonky (1886-1949), Musiker

Schlagworte: Auswanderung, Gebietsabtretungen an Polen 1918/20, Gründung der Republik Polen 1918, Lehrerin, Minderheitenpolitik, Schule, Schulpolitik, Sprachenpolitik, Unterstützung aus Deutschland

Geographische Schlagworte: Bentschen, Birnbaum, Posen

Konkordanz: Bentschen →Zbąszyń (Polen); Birnbaum →Międzychód (Polen)

Fundort: Herder-Institut Marburg, Dokumentensammlung, Signatur: DSHI 100 Jendrike 5, Posen A-D, Blatt 41-49, https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/herder-institut-ev; Depositum der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V.

Editionsmodus: [vollständiges Digitalisat], Transkript


Inhalt:

Die Autorin beschreibt kursorisch ihre Laufbahn als Lehrerin und Schulleiterin im deutschen Kaiserreich, der Zweiten Polnischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Ihre eigenen Aktivitäten thematisiert sie nicht, vielmehr geht sie, dem Anlass ihres Berichts entsprechend, intensiver auf die Geschichte der beiden Schulen in Bentschen und Birnbaum, an denen sie tätig war, sowie auf die Geschichte der beiden Orte im frühen zwanzigsten Jahrhundert ein. Sie vermittelt damit einen Eindruck von den Veränderungen, welche die Zugehörigkeit der beiden Gemeinden zu Polen ab 1920 insbesondere im Schulwesen mit sich brachte.


Einordnung/Kommentar:

Die Biographie Frau B.s kann als exemplarisch für die Lebensläufe vieler Lehrer in den Teilen der preußischen Ostprovinzen, welche 1918/20 Teil Polens wurden, gelesen werden. Sie stammte aus einem Ort, der ebenso wie die Gemeinden, in denen sie später unterrichtete, seit den Polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts zu Preußen gehörte. Außergewöhnlich war lediglich, dass sie als Tochter eines Gutsbesitzers zunächst Privatunterricht genoss. Anschließend durchlief sie das reguläre preußische Bildungssystem. Der Besuch eines Lehrerinnenseminars stellte für viele junge Frauen aus dem unteren und mittleren Bürgertum die einzige Möglichkeit dar, im deutschen Kaiserreich einen gesellschaftlich anerkannten Beruf zu ergreifen. Ebenso häufig kam es vor, dass junge Lehrerinnen und Lehrer zunächst eine Weile als Hauslehrerin oder Hauslehrer arbeiten mussten, bevor sie eine reguläre Stelle fanden.2 Frau B. gelang der Sprung in eine höhere Schule 1915. Sie war damit bereits eine etablierte Lehrerin, als ihr Arbeitsort Bentschen 1920 polnisch wurde.

Bentschen wurde bis zum Ersten Weltkrieg überwiegend von Deutschen bewohnt. In den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen stellten die Deutschen jedoch nur in ihren Siedlungsschwerpunkten die Mehrheit, insgesamt lebten in der Region mehr Polen als Deutsche. Wie in Bentschen war nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Gemeinden, vor allem in den Städten, zu beobachten, dass ein großer Teil der deutschsprachigen Bevölkerung ins Deutsch Reich abwanderte. Lebten 1921 noch zwischen 1 und 1,4 Millionen Deutsche in Polen, so waren es 1931 nur noch zwischen 700.000 und 1,1 Millionen. Damit war der deutsche Bevölkerungsanteil binnen zehn Jahren von 3,9 auf 2,3 Prozent gesunken. Im Posener Raum und in Pommerellen lebten mit 300.000 bis 340.000 Personen und etwa 10 Prozent der dortigen Bevölkerung die größte deutsche Gruppen.3 Analog zu anderen Orten der Region kehrten sich auch in Bentschen die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Polen um.4

Für Frau B. änderten sich ihre Lebensverhältnisse und vor allem ihre Arbeitsbedingungen dadurch gravierend. Der polnische Staat garantierte zwar den auf seinem Territorium lebenden Minderheiten durch einen 1921 unterzeichneten Minderheitenschutzvertrag und eine entsprechende Verfassungsklausel das Recht, Schulen in ihrer Muttersprache einzurichten, seine Schulpolitik behinderte diese Schulen aber eher, als dass sie sie förderte. Polen beabsichtigte, langfristig ein zentrales, einheitlich polnisches Bildungssystem einzurichten, das auch dem Nationbuilding im jungen Vielvölkerstaat dienen sollte - die Angehörigen der Minderheiten sollten schon durch die Schule in die Staatsnation integriert werden.5 In den frühen 1920er Jahren fehlten dem jungen Staat aber die Mittel, ein völlig neues Schulsystem aufzubauen. Er übernahm deshalb die preußischen Schulen und deren Personal.6 Auch in Bentschen wurde so aus der preußischen Städtischen Höheren Schule eine staatliche polnische Schule. Für die Kinder der immer noch zahlreichen deutschen Einwohnerschaft wurde an der polnischen Schule ein deutscher Zweig eingerichtet. Den Eltern der deutschsprachigen Kinder war das offenbar zu wenig. Auch dies war ein in Zwischenkriegspolen häufig zu beobachtendes Phänomen: Vielen Deutschen war es wichtig, dass ihre Kinder in deutschsprachigen Schulen unterrichtet wurden. Sie befürchteten, ihre Kinder würden beim Besuch einer polnischsprachigen Schule von ihrer Muttersprache und damit auch von ihrer deutschen Kultur und deutschen Identität entfremdet.7 Sie waren deshalb häufig dazu bereit, mit hohem Aufwand eine Privatschule zu gründen und zu betreiben, um ihren Kindern deutschsprachigen Unterricht zu ermöglichen.8 Mit Hilfe dieser Privatschulen konnten im Posener Raum 43 Prozent der deutschsprachigen Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden.9

Unterstützung erhielten die engagierten Eltern von verschiedenen Schul- und Lehrervereinen. Diese wurden ihrerseits nicht selten von deutschen Stellen mitfinanziert, da auch das Deutsche Reich daran interessiert war, dass die Angehörigen der deutschen Minderheiten ihre kulturelle Identität bewahrten. Einer der wichtigsten Schulvereine, der eine große Rolle bei der Einrichtung deutscher Privatschulen, dem Neubau von Schulhäusern und der Ausbildung deutscher Lehrer spielte, war der Bromberger Schulverein, der auch die Schulgründung in Bentschen unterstütze.10

Privatschulen genossen in Polen aufgrund der beabsichtigten Vereinheitlichung des Schulsystems generell nicht die Unterstützung der öffentlichen Hand, es existierte auch keine spezielle Förderung für Minderheitenschulen.11 Privatschulen unterlagen vielmehr strikten Kontrollen. Sie mussten von den Behörden genehmigt werden und sowohl in Größe und Ausstattung der Schulgebäude als auch in pädagogischer Hinsicht verschiedene staatliche Vorgaben erfüllen. Polnisch musste auch an deutschsprachigen Schulen zumindest als bevorzugte Fremdsprache angeboten werden.12 Frau B. legte deshalb, obwohl seit Jahren arrivierte Lehrerin, zwei zusätzliche Examen ab, die sie berechtigten, Polnisch zu unterrichten.13

Bezeichnend ist, dass die deutsche Privatschule für die mehrheitlich katholischen Kinder Räume im evangelischen Gemeindehaus nutzte. Dies unterstrich die im deutsch-polnischen Grenzgebiet übliche Gleichsetzung von Nationalität und Religion, bei der evangelisch mit deutsch assoziiert wurde. Dies korrespondierte mit der Intention der in einer staatsnahen Tradition stehenden ehemals preußischen Kirchengemeinde, sich für das "Deutschtum" zu engagieren.14

Während Frau B. in Bentschen die Umbrüche durch die Gründung der Republik Polen miterlebte, trat sie ihren Dienst in Birnbaum, einer der bedeutenderen deutschen Siedlungen15, erst an, nachdem die Abwanderungswelle der Deutschen bereits verebbt war. Auch hier befand sich die deutsche Bevölkerung nun in der Minderheit, die beiden höheren Schulen waren zusammengelegt worden. Wieder war es eine vom Bromberger Schulverein unterstützte Privatschule, welche Schulunterricht in deutscher Sprache ermöglichte. Die Schule war, auch dies ist bei deutschsprachigen Schulen häufig zu beobachten, in ein reges deutsches Vereins- und Sozialleben eingebunden.16 Im Vorstand des Schulvereins waren zahlreiche Honoratioren der deutschen Minderheit zu finden, die Schule und bedürftige Schüler wurden von ihnen und anderen Minderheitenangehörigen auch materiell unterstützt. Der Umstand, dass einer von Frau B.s Kollegen einen Heimatkalender herausgab, war im Grunde nicht ungewöhnlich. Historisch und volkskundliche interessierte Lehrer traten und treten oft in ähnlicher Weise als lokale Kulturpfleger auf. Als Multiplikatoren deutscher Kultur und Traditionen innerhalb der deutschen Minderheiten wurden sie von den Minderheitenorganisationen sogar dazu animiert.17 In der nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre in Zwischenkriegspolen konnten solche Aktivitäten aber als Illoyalität gegenüber dem polnischen Staat ausgelegt werden. Privatschulen und deren Lehrer mussten jedoch ihre Loyalität gegenüber dem polnischen Staat nachweisen, sonst konnte die Schule geschlossen werden.18

Die von Frau B. erwähnte Schließung der deutschen Schule in Zirke/Sieraków zeigt, dass die Minderheitenschulen tatsächlich keinen Bestandsschutz genossen. Der Umstand, dass die deutschen Kinder aus dem Einzugsbereich der geschlossenen Schule nach Birnbaum geschickt wurden und deshalb einen täglichen, selbst zu organisierenden und finanzierenden Schulweg von bis zu 30 Kilometern auf sich nehmen mussten - staatliche Schulen durften nur Kinder aus einem Umkreis von drei Kilometern aufnehmen19 -, verdeutlicht aber erneut die Bedeutung, die viele Eltern deutschsprachigem Schulunterricht beimaßen.

Frau B.s Bericht zeigt zudem, unter welch beengten Bedingungen der deutschsprachige Unterricht stattfinden musste. Nicht nur, dass die Räumlichkeiten ständig erweitert werden mussten, es mangelte auch an deutschsprachigen Materialien, weshalb die Lehrerinnen zur Selbsthilfe griffen. Auch dies war eine Folge der politischen Aufladung der Schulfrage, in der beide Seiten Wert auf Unterrichtsinhalte und entsprechende Materialien legten, die ein ganz bestimmtes Bild ihrer Nation, Kultur und Geschichte zeigten.20

Frau B. ließ als Schulleiterin sowohl deutsche als auch polnische Feiertage schuloffiziell zelebrieren. Ihr war es offenbar gelungen, zu den polnischen Schulbehörden ein auskömmliches Verhältnis aufzubauen. Dennoch scheint die Situation an ihren Kräften gezehrt zu haben, die bessere Bezahlung, die viele Lehrer ins Deutschen Reich trieb, lockte21, oder die Träger der Schule waren mit ihrer Arbeit nicht zufrieden. Sie selbst nennt keinen Grund, warum sie 1938 an eine Berliner Schule wechselte, sie wurde aber von einem renommierten Minderheitenvertreter abgelöst, dem ehemaligen schlesischen Sejm-Abgeordneten Julian Will, der die Situation der Schule im lokalen Gerangel der Nationalitäten verbessern sollte.22 Dies war jedoch nur der vorletzte Schritt in der Politisierung der Birnbaumer deutschen Schule. Den letzten dieser Schritte, die Auflösung der Schule kurz vor Kriegsausbruch, welche dem sich rapide verschlechternden Verhältnis zwischen Deutschland und Polen geschuldet war23, erlebte Frau B. bereits nicht mehr vor Ort mit. Die deutschen Besatzer gliederten den Posener Raum nur wenig später als "Reichsgau Wartheland" ins Deutsche Reich ein. Deutschsprachige Privatschulen wurden verstaatlicht, ihre Lehrer in den Staatsdienst übernommen.24 Die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs beendete die deutsche Geschichte Birnbaums schließlich endgültig.

1 Eser 2010, S. 548; Lempart 1999, S. 488.

2 Vgl. Heinken 2000, S. 80; Eser 2010, S. 507

3 Eser 2010, S. 166-168Lempart 1999, S. 412-415, 423, 426f.

4 Eser 2010, S. 63-72.

5 Eser 2010, S. 117-120, 461-490, 552-578, 668-675; Lempart 1999, S. 441f, 477-479.

6 Eser 2010, S. 71f, 249-263; Lempart 1999, S. 477f.

7 Eser 2010, S. 21-23, 370-379, 670-672.

8 Eser 2010, S. 221, 461-490; Lempart 1999, S. 482-485.

9 Lempart 1999, S. 484f.

10 Eser 2010, S. 135-164, 223, 318-333, 627, 673f; Luther 2004; Luther 1999; Krekeler 1973.

11 Eser 2010, S. 552-578, 668-675; vgl. Lempart 1999, S. 442, 477-479.

12 Eser 2010, S. 462-464

13 Vgl. Eser 2010, S. 517f, 545.

14 Vgl. Eser 2010, S. 68f, 671; Lempart 1999, S. 464f.

15 Lempart 1999, S. 415.

16 Eser 2010, S. 222-225.

17 Eser 2010, S. 507f, 511, 525f.

18 Eser 2010, S. 262f, 464-466, 550f, 573-578.

19 Eser 2010, S. 254, 473-477.

20 Eser 2010, S. 568-573.

21 Vgl. Eser 2010, S. 511-514.

22 Eser 2010, S. 548, 627; Lempart 1999, S. 488.

23 Vgl. Eser 2010, S. 640-658; Lempart 1999, S. 484.

24 Eser 2010, S. 656.


Literatur:

Eser 2010: Ingo Eser: "Volk, Staat, Gott!". Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918-1939. Wiesbaden 2010

Heinken 2000: Ilse Heinken: Das Schulsystem im Kaiserreich. In: Ursula Blömer, Detlef Garz (Hg.): "Wir Kinder hatten ein herrliches Leben..." Jüdische Kindheit und Jugend im Kaiserreich 1871-1918. Oldenburg 2000, S. 79-87

Krekeler 1973: Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik des Deutschen Reiches. Stuttgart 1973

Lempart 1999: Matthias Lempart: Polen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. München 1999, S. 407-495

Luther 1999: Rudolf Luther: Blau oder braun? Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland - VDA - im NS-Staat 1933-1937. Neumünster 1999

Luther 2004: Tammo Luther: Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938. Die Auslandsdeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalismus und Nationalsozialismus. Stuttgart 2004

Neměc 2010: Mirek Neměc: Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918-1938, Essen 2010