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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Erinnerungen an den Kirchenkampf in Ostpreußen

Autoren: Martin Segschneider, Pastor, geb. 1928 in Rastenburg (Kętrzyn), Dr. Ernst Helmut Segschneider, Volkskundler, geb. 1938 in Eydtkuhnen

Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, Brief; maschinenschriftliche Manuskripte, jeweils zwei Seiten

Entstehungsorte und -zeit: Nebel auf Amrum, Bramsche, 2011

Entstehungszusammenhang: Niederschrift des Berichts auf Bitten des jüngeren Bruders und dessen Begleitschreiben der Übersendung ans BKGE

Zeitraum der Schilderung: 1934-1938

Personen: Ernst Röhm (1887-1934), Stabschef der SA1; Martin Rehm, evangelischer Theologe; Manfred Koschorke, Pfarrer der Bekennenden Kirche, Studentenpfarrer in Königsberg, Wuppertal und Marburg2; Franz-Reinhold Hildebrandt, evangelischer Pfarrer in Goldap, Mitglied der Bekennenden Kirche3; Joseph Goebbels (1897-1945), Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda

Schlagworte: Antisemitismus, Bekennende Kirche, Familie, Gestapo, Kirchenkampf, Reichspogromnacht

Geographische Schlagworte: Eydtkuhnen/Eydtkau, Darkehmen, Lamgarben, Carlshof, Stallupönen/Ebenrode, Stuhm, Ostpreußen, Rheydt

Konkordanz: Eydtkuhnen → Чернышевское (Černyševskoe), Oblast Kaliningrad, Russische Föderation, 1938-1945 Eydtkau; Lamgarben → Garbno, Polen; Carlshof → Karolewo, Polen; Goldap → Gołdap, Polen; Stallupönen → Нестеров (Nesterov), Russische Föderation, ab 1938 Ebenrode; Stuhm → Sztum, Polen

Fundort: Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/bundesinstitut-fuer-kultur-und-geschichte-der-deutschen-im-oestlichen-europa-bkge

Editionsmodus: vollständiges Digitalisat; gekürztes Transkript, Auslassung gekennzeichnet


Inhalt:

Die Autoren berichten vom Engagement ihres Vaters, des evangelischen Pfarrers von Eydtkuhnen/Eydtkau, in der Bekennenden Kirche Ostpreußens gegen den Nationalsozialismus. Obwohl sie selbst noch Kinder waren, können sie von Denunziationen, dem Schicksal ihres Vaters und andeutungsweise auch von den illegalen Strukturen der Oppositionskirche erzählen. Daneben geben sie kurze Einblicke in das Leben einer oppositionellen Pfarrersfamilie und beschreiben die Dorfkirche.4


Einordnung/Kommentar:

Beide Autoren weisen mit unterschiedlicher Vehemenz darauf hin, dass ihr Vater, der evangelische Pfarrer Ernst Segschneider, als privater "Zuhörer" an der sogenannten Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen vom 29. bis zum 31. Mai 1934 teilgenommen habe. Während dieser Synode beschlossen die Delegierten von 25 Kirchenbezirken die Barmer Theologische Erklärung, in der sie die Bedeutung des Evangeliums als alleinige Quelle von Glauben und Kirche betonten. Dies geschah in bewusster Opposition zu den nationalsozialistisch orientierten Deutschen Christen und den Versuchen des nationalsozialistischen Regimes, die protestantischen Kirchen theologisch wie organisatorisch nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Letztlich führte der in Barmen eingeschlagene Weg zur Spaltung der evangelischen Kirchen in einen regimetreuen und einen oppositionellen Zweig, die Bekennende Kirche.

Die Barmer Bekenntnissynode gilt aufgrund ihrer gravierenden Wirkung als eines der bedeutendsten kirchengeschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts.5 Allerdings war sie nicht als repräsentative Vertretung des gesamten evangelischen Kirchenvolks angelegt. Die Kirchenprovinz Ostpreußen war nur mit einem Delegierten vertreten, Pfarrer Otto Glüer aus Groß Schmückwalde (Smykowo, ein Ortsteil von Osterode/ Ostróda in Ostpreußen).6 Ob Ernst Segschneider tatsächlich wie von seinen Söhnen beschrieben als Privatperson an der Synode teilnahm, lässt sich nicht mehr verifizieren7, ist aber aufgrund seines frühen Engagements für die Bekennende Kirche8 nicht unwahrscheinlich. Es steht daher zu vermuten, dass Ernst Segschneider Gleichgesinnten in der abgelegenen Provinz von seinem Besuch der Wuppertaler Synode berichtete und damit wahrscheinlich nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Entstehung der Bekennenden Kirche in Ostpreußen nahm. Dafür spricht, dass sein Name unter der Gründungserklärung der Freien Evangelischen Bekenntnissynode Ostpreußens zu finden ist.9

Ebenfalls zu den Gründern der ostpreußischen Bekennenden Kirche gehörte der im Text genannte "Chef" des illegalen Predigerseminars der Bekennenden Kirche, der Pfarrer Franz-Reinhold Hildebrandt aus Goldap, der sich auch in überregionalen oppositionellen Kirchengremien und nach 1945 bei der Neuformierung der evangelischen Kirche in Deutschland engagierte.10 Bei der Schilderung des Treffens der Seminaristen, zu dem Martin Segschneider seinen Vater begleiten durfte, liegt wahrscheinlich ein Datierungsfehler vor, denn der Sitz des Seminars befand sich vom Herbst 1935 bis zum Mai 1937 nicht in der Rominter Heide, sondern auf Gut Blöstau (Вишнёвка/ Višnëvka) im Samland, das der Gutsherr der Bekennenden Kirche zur Verfügung gestellt hatte.11

Die Einrichtung eines eigenen Predigerseminars für die Bekennende Kirche war notwendig geworden, weil die bisherige Ausbildungsstätte für evangelische Pfarrer in Klein-Neuhaus/Carlshof bei Rastenburg (Kętrzyn) ab 1933 von den Deutschen Christen vereinnahmt wurde. Das Seminar in Blöstau war daher eine kircheninterne Einrichtung und aus staatlicher Sicht zu dieser Zeit nicht illegal. Hier wurde auch nicht unter konspirativen Bedingungen gelehrt. Das Seminar wurde in einem - von der Gestapo recht offen beobachteten - Festakt von Martin Niemöller (1892-1984), einem der bedeutendsten Vertreter des kirchlichen Widerstands, eingeweiht, die Leitung übernahm der namhafte Theologe Hans-Joachim Iwand (1899-1960). Das Seminar, dem ein aus Kollekten und Sachspenden ausgestattetes Gebäude mit Hausangestellten zur Verfügung stand, nahm zudem nicht nur ostpreußische Vikare auf, es war also über die Grenzen der Provinz hinaus bekannt. Als Iwand im Mai 1937 aufgrund seiner oppositionellen Aktivitäten aus Ostpreußen ausgewiesen wurde, zog das Predigerseminar mit ihm nach Westdeutschland, wo es gegen Jahresende endgültig von den Behörden geschlossen wurde.12

In Ostpreußen wurde von Herbst 1937 bis zum Sommer 1939 versucht, das Predigerseminar quasi im Untergrund weiterzuführen, weshalb die Studenten nicht gemeinsam, sondern in Einzelquartieren in der Umgebung Darkehmens (Озёрск/Ozërsk), also in Nachbarschaft zur Rominter Heide, untergebracht wurden. Dieses Seminar wurde von Pastor Fritz Schröter und eben dem genannten Franz-Reinhold Hildebrandt aus dem nahen Goldap geleitet.13 Auch Eydtkuhnen lag nicht allzu weit von Darkehmen entfernt, und da der geschilderte konspirative Charakter des Treffens den Verhältnissen im Jahre 1937 weit eher entspricht als denen des Jahres 1936, liegt nahe, dass Pfarrer Segschneider seinen Sohn kurz vor seinem Tod im August 1937 zu einem Vorbereitungstreffen für die Einrichtung des tatsächlich "illegalen" Predigerseminars mitgenommen hatte. Sein früher Tod erklärt, warum er in der Literatur nicht weiter mit dem Seminar in Verbindung gebracht wird.14 Es läge dann die Vermutung nahe, dass die Verhaftung Segschneiders, die seine Söhne für seinen Tod verantwortlich machen, auch in diesem Zusammenhang erfolgte - von anderen Pfarrern der Bekennenden Kirche ist überliefert, dass sie verhaftet wurden, weil sie beispielsweise Kollekten für das Predigerseminar durchführten.15

Die Bemerkung von Martin Segschneider, seine Mutter habe verhindern müssen, dass er auf eine Napola, eine Nationalpolitische Lehranstalt, geschickt wurde, spricht nicht für Nationalsozialisten in der widerständigen Familie. Auf diesen Eliteschulen sollte der Führungsnachwuchs ausgebildet werden, weswegen insbesondere sportliche und selbstverständlich "arische" Kinder, die sich außer durch eine überdurchschnittliche geistige Begabung auch durch einen selbstbewussten und gerne auch kämpferisch-frechen Charakter angeblich für eine künftige Führungsrolle empfahlen, für diese Schulen rekrutiert wurden, selbst wenn die Elternhäuser nicht als linientreu galten.16 Auch die drastische Strafe wegen Hörens von "Feindsendern" war nicht außergewöhnlich.17

Die Kirche Eydtkuhnens wurde 1887 bis 1889 nach den Plänen eines Stüler-Schülers, des preußischen Dezernenten für Kirchenbau Friedrich Adler (1827-1908)18, gebaut. Sie wird in einem zeitgenössischen Werk als Beispiel für einen romanisierenden Zentralbau angeführt. Die von Ernst Helmut Segschneider beschriebenen sechseckigen Sterne um die Giebelfenster der Querhäuser werden bei dieser Beschreibung der Kirche nicht erwähnt.19 Offenbar wurde ihnen, wie auch in einer anderen zeitgenössischen Kurzbeschreibung der Kirche20, keine größere Bedeutung beigemessen. Tatsächlich gehörten derartige Sterne, wie auch in der Quelle angeführt, nicht ausschließlich in die jüdische Ikonographie. Sie sind sowohl in christlichen als auch in säkularen Zusammenhängen als dekorative Elemente zu finden.21 Die Sterne sind an der Ruine der Eydtkuhner Kirche noch heute zu sehen.22


1 Vgl. Hancock 2008.

2 Kubitza 1992, S. 148-164.

3 Meier 1976 I, S. 290; Meier 1976 II, S. 190-193.

4 Vgl. Segschneider 2008; Segschneider 2011.

5 Besier 2000, S. 25.

6 Niemöller 1959, S. 11-25; Vgl. dagegen Linck 1968, S. 74.

7 In der von Gerhard Niemöller 1959 veröffentlichten Teilnehmerliste ist er nicht aufgeführt, die Liste scheint aber nur die offiziellen Delegierten zu umfassen (Niemöller 1959, S. 11-25; vgl. Stephan 1986, S. 117).

8 Vgl. Meier 1976 I, S. 290.

9 Koschorke 1976, S. 139.

10 Boberach, Nicolaisen, Pabst 2010, S. 121, 156, 169, 241, 249, 263.

11 Linck 1968, S. 62f, 133.

12 Koschorke 1976, S. 177-179, 429; Linck 1968, S. 133-138, 286f; Dembowski 1995, S. 811-814; Hubatsch 1968, S. 469.

13 Koschorke 1976, S. 177f; Linck 1968, S. 134f.

14 Vgl. Koschorke 1976, S. 177f; Linck 1968, S. 134f.

15 Linck 1968, S. 152f, 238.

16 Gelhaus, Hülter 2003, S. 51-54.

17 Vgl. Hensle 2003, S. 72-97, 116-149.

18 Lemburg 1989.

19 Vereinigung Berliner Architekten 1893, S. 330f.

20 Harnoch 1890, S. 355f.

21 Scholem 2010; Oegema 1996, S. 47f, S. 104-106; Scheiner 2004, S. 135f; vgl. Segschneider 1999.

22 Bachtin, Doliesen 1998, S. 220; vgl. Hubatsch 1969, Abb. 366, S. 90

Literatur:

Bachtin, Doliesen 1998: Anatolij Bachtin, Gerhard Doliesen: Vergessene Kultur. Kirchen in Nord-Ostpreußen. Eine Dokumentation. Husum 1998

Besier 2000: Gerhard Besier: Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 56). München 2000

Boberach, Nicolaisen, Pabst 2010: Heinz Boberach, Carsten Nicolaisen, Ruth Pabst (Bearb.): Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe, Ämter, Verbände, Personen. Band 1. Überregionale Einrichtungen. Göttingen 2010

Dembowski 1995: Hermann Dembowski: Hans Joachim Iwand (1899-1960). In: Dietrich Rauschning, Donata von Nerée (Hg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., Band XXIX 1994). Berlin 1995, S. 811-825

Gelhaus, Hülter 2003: Dirk Gelhaus, Jörn-Peter Hülter: Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes. Würzburg 2003

Hancock 2008: Eleanor Hancock: Ernst Röhm. Hitler’s SA Chief of Staff. New York 2008

Harnoch 1890: Agathon Harnoch: Chronik und Statistik der evangelischen Kirchen in den Provinzen Ost- und Westpreußen. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Neidenburg 1890

Hensle 2003: Michael P. Hensle: Rundfunkverbrechen. Das Hören von „Feindsendern“ im Nationalsozialismus. Berlin 2003

Hubatsch 1968: Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens. I. Göttingen 1968

Hubatsch 1969: Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens. II. Bilder ostpreußischer Kirchen bearbeitet von Iselin Gundermann. Göttingen 1969

Koschorke 1976: Manfred Koschorke (Hg.): Geschichte der Bekennenden Kirche in Ostpreußen 1933-1945: Allein das Wort hat’s getan. Göttingen 1976

Kubitza 1992: Heinz-Werner Kubitza: Geschichte der Evangelischen Studentengemeinde Marburg. Marburg 1992

Lemburg 1989: Peter Lemburg: Leben und Werk des Berliner Architekten Friedrich Adler (1827-1908). Berlin 1989

Linck 1968: Hugo Linck: Kirchenkampf in Ostpreußen 1933 bis 1945. Geschichte und Dokumentation. München 1968

Niemöller 1959: Gerhard Niemöller (Hg.): Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen. Teil 2: Text – Dokumente – Berichte. Göttingen 1959

Meier 1976 I: Kurt Meier: Der evangelische Kirchenkampf. Band 1. Der Kampf um die „Reichskirche“. Göttingen 1976

Meier 1976 II: Kurt Meier: Der evangelische Kirchenkampf. Band 2. Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher „Rechtshilfe“. Göttingen 1976

Oegema 1996: Gerbern S. Oegema: The History oft he Shield of David. The Birth of a Symbol. Frankfurt/Main 1996

Scheiner 2004: Jens J. Scheiner: Vom gelben Flicken zum Judenstern? Genese und Applikation von Judenabzeichen im Islam und christlichen Europa (849-1941). Frankfurt/Main 2004

Scholem 2010: Gershom Scholem: Das Davidschild. Geschichte eines Symbols. Frankfurt/Main 2010

Segschneider 1999: Dr. E.[rnst] H.[elmut] Segschneider: Evangelische Kirche in Eydtkau (Eydtkuhnen). In: Ebenrode (Stallupönen). Heimatbrief mit Nachrichten und Berichten von gestern und heute. 36. Folge, Dezember 1999, S. 56

Segschneider 2011: Ernst Helmut Segschneider: „The little red pawnee“. Eine Kindheit in Ostpreußen, Posen, Westfalen und am Niederrhein während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit. Münster, New York, München, Berlin 2011

Segschneider 2008: Martin Segschneider: Pfarrer Ernst Segschneider aus Eydtkau. In Memoriam. In: Ebenrode (Stallupönen). Heimatbrief mit Nachrichten und Berichten von gestern und heute. 45. Folge, Dezember 2008, S. 164-167

Stephan 1986: Hans-Ulrich Stephan (Hg.): Das eine Wort für alle. Barmen 1934-1984. Eine Dokumentation. Neukirchen-Vluyn 1986

Vereinigung Berliner Architekten 1893: Vereinigung Berliner Architekten (Hg.): Der Kirchenbau des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart. Mit 1041 Grundrissen, Durchschnitten, Ansichten. Berlin 1893