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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Erinnerungen an Hedwig

Autor/Autorin:

Frau B., geb. ca. 1912, Lehrerin, 1932 Heirat mit dem Lehrer Leo B., 1933 Geburt der Tochter, ab 1935 Lehrerin in Hedwig

Art: Erinnerungsbericht, 28 S. [A 4], Maschinenschrift

Entstehungszeit und -zusammenhang: nicht bekannt

Zeitraum der Schilderung: 1931-1938/39

Personen: Max Udo Kasparek: Wirtschaftsberater des Deutschen Kulturverbandes in der Slowakei, Völkerkundler1

Schlagworte: Arbeitsmigration, Brauch, Jagd, medizinische Versorgung, Lebensmittelversorgung, Ortsgeschichte, politische Organisationen, Schulpolitik, Sprachpolitik, Wohnen.

Geographische Schlagworte: Slowakei, Hauerland, Hedwig, Große Fatra, Slow. Proben, Deutsch-Proben

Konkordanz: Hedwig → Hadviga, Slowakei, seit Kriegsende weitgehend verlassen

Große Fatra → Vel'ká Fatra, Slowakei

Slow. Proben → Slowenisch Proben → Slovenské Pravno, Slowakei

Deutsch-Proben → Nemecké Pravno, seit 1946 Nitrianske Pravno, Slowakei

Archiv: Karpatendeutsches Kulturwerk Slowakei e.V., Karlsruhe, Archiv

https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/karpatendeutsches-kulturwerk-slowakei-ev-archiv

Editionsmodus: Vollständiges Transkript


Inhalt:

Die Autorin beschreibt ihr Leben als Lehrerin in Hedwig in den Jahren 1935 bis 1938/39. Sie schildert ausführlich die Gründungsgeschichte des Ortes sowie den Alltag seiner Bewohner und zeichnet ein lebendiges, detailreiches und mit zahlreichen Anekdoten ausgeschmücktes Bild einer armen, abgelegenen und nur schwer zu erreichenden deutschen Waldgemeinde in der nördlichen Slowakei. Sie widmet der Beschreibung von Bräuchen und Traditionen ebenso große Aufmerksamkeit wie dem kirchlichen Leben und der wirtschaftlichen Situation der Gemeinde. Weitere Schwerpunkte bilden die Stellung des Lehrerehepaars sowie die Hilfs- und Beratungsmaßnahmen durch die Karpatendeutsche Partei.


Einordnung/Kommentar:

Die Autorin schildert mit Sympathie und aus einer beobachtenden Distanz heraus das Alltagsleben in einer für das Hauerland nicht untypischen deutschen Niederlassung. Viele dieser Gebirgsdörfer entstanden wie Hedwig im 14. Jahrhundert als Bergbausiedlungen. Ab dem 16. Jahrhundert waren die Minen erschöpft, die Hauerländer mussten sich auf die Landwirtschaft verlegen, die jedoch aufgrund der schlechten Böden und der Erbteilung wenig ergiebig war.2 Die in anderen Orten anzutreffende Spezialisierung in bestimmten Handwerkszweigen sowie die zumindest bis zum Ersten Weltkrieg übliche Saisonarbeit auf Landgütern in der ungarischen Tiefebene waren hier in den 1930er Jahren offenbar unüblich. Erst die veränderte politische Lage durch den Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei und die Unabhängigkeit der Slowakei3 sowie der kriegsbedingt gesteigerte Arbeitskräftebedarf im Deutschen Reich verhalf auch den Einwohnern Hedwigs zu Arbeitsplätzen fernab ihrer Heimat.4 Hedwig und sein Nachbardorf Bries gehörten zudem zu den wenigen gemischtkonfessionellen Gemeinden im fast ausschließlich katholischen Hauerland.5

Die Autorin selbst steht beispielhaft für die minderheiten- und kulturpolitische Bedeutung sudetendeutscher Multiplikatoren in der Slowakei. Außerhalb Hedwigs scheint Frau B. vor allem zu anderen im Hauerland tätigen sudetendeutschen Lehrern Kontakte gepflegt zu haben. Diesen wird in der Literatur aufgrund der konfliktreicheren Situation im Sudetenland ein stärkeres Nationalgefühl zugeschrieben als den Hauerländern. Letztere zeigten aus historischen Gründen Sympathien für Ungarn, zu dem ihre Heimat bis 1918 gehört hatte.6 Die in der Slowakei arbeitenden sudetendeutschen Lehrer hätten deshalb stark dazu beigetragen, bei den Slowakeideutschen überhaupt erst ein deutsches Nationalbewusstsein zu wecken.7

Ein wichtiger Schauplatz hierbei waren die deutschsprachigen Schulen. Die Slowakeideutschen wurden von den tschechoslowakischen Behörden zwar nicht als problematische Minderheit eingeschätzt wie die Sudetendeutschen8, zudem hatte sich die Tschechoslowakei dem in den Pariser Friedensverträgen verankerten Minderheitenschutz verpflichtet und garantierte den einzelnen Volksgruppen den ungehinderten Gebrauch ihrer Sprache.9 Dennoch versuchte die Regierung ab 1925, deutsche Schulen in tschechoslowakische umzuwandeln. Die Behörden wollten die Slowakeideutschen von ihrer überkommenen proungarischen Haltung entfremden, Autonomiebestrebungen keine Basis geben und die deutsche Minderheit stärker an den jungen Staat binden.10 Deutsch orientierte Lehrer wie Frau B. leisteten dagegen trotz persönlicher Nachteile Widerstand.

Frau B. unterstützte zudem die Beratungs- und Hilfsmaßnahmen der Karpatendeutschen Partei. Diese 1927 als "Karpatendeutsche Volksgemeinschaft" gegründete Organisation verstand sich als "minderheitspolitische Allzweckorganisation"11, die nicht nur die Interessen der Slowakeideutschen im Parlament vertreten, sondern überhaupt erst ein gemeinsames Nationalbewusstsein schaffen sollte. In Hedwig äußerte sich diese Absicht vor allem in praktischen Hilfsaktionen, die in der gesamten Slowakei zu den wichtigsten Aufgaben im Rahmen der "Volkstumsarbeit" zählten.12 Die Autorin schreibt dem Engagement der Karpatendeutschen Partei, die nach der Unabhängigkeit der Slowakei als "Deutsche Partei" unter der Führung des sudetendeutschen NS-Führers Konrad Henlein stand13, keine weitergehenden weltanschaulichen oder politischen Absichten zu.

Ihr Bericht ist in seinem Detailreichtum sowohl für die Alltags- als auch für die Mentalitätsgeschichte von hohem Quellenwert. Er ist auch ein Beispiel für den Einfluss sudetendeutscher Multiplikatoren auf die Karpatendeutschen und auf deren Darstellung nach 1945.14


1 Kasparek 1941/42; Kasparek 1959; http://159987.homepagemodules.de/t11f11-Volkstumsarbeit.html; Zugriff 03.02.11.

2 Lempart 1999, S. 647, 674-675.

3 Formal unabhängig war die Erste Slowakische Republik faktisch ein Satellitenstaat des Deutschen Reiches, vgl. Leiserowitz 2008, S. 162.

4 Lempart 1999, S. 675.

5 Lempart 1999, S. 682.

6 Lipscher 1979, S. 37.

7 Lempart 1999, S. 663.

8 Vgl. Hoensch 1992, S. 44f, 47f.

9 Lipscher 1979, S. 38, 46-47; Hoensch 1992, S. 49; Mamatey, Luža 1980, S. 106.

10 Lempart 1999, S. 659.

11 Schödl 1995, S. 633; Vgl. Jahn 1979, S. 213.

12 Vgl. Luh 1988, S. 318-322.

13 Lempart 1999, S. 665.

14 Vgl. Morrisey 2006, S. 353f.


Literatur:

Hoensch 1992: Jörg K. Hoensch: Geschichte der Tschechoslowakei. 3., verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart 1992

Jahn 1979: Egbert Jahn: Die parteipolitische Vertretung der Deutschen in der Slowakei. In: Karl Bosl (Hg.): Die erste tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. München 1979, S. 203-216

Kasparek 1941/42: Max Udo Kasparek: Die jüngsten Tochtersiedlungen der Kremnitz-Deutsch-Probener Sprachinsel. In: Karpatenland. Zeitschrift für karpatendeutsche Literatur, Kultur und Volkskunde. Organ des Arbeitskreises Karpatendeutscher Schriftsteller (Aks) 12/1941/42, S. 332-343

Kasparek 1959: Max Udo Kasparek: Als Säer wir kamen. Deutsches Leben in den Karpaten. Stuttgart 1959

Leiserowitz, 2008: Ruth Leiserowitz: Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Osteuropa. Berlin 2008.

Lempart 1999: Matthias Lempart: Die Karpatendeutschen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. München 1999, S. 643-705

Lipscher 1979: Ladislav Lipscher: Verfassung und politische Verwaltung in der Tschechoslowakei 1918-1939. München 1979

Luh 1988: Andreas Luh: Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung. München 1988

Mamatey, Luža 1980: Victor S. Mamatey, Radomír Luža (Hg.): Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918-1948. Wien 1980

Mannová 2000: Elena Mannová: A concise history of Slovakia. Bratislava 2000

Morrisey 2006: Christof Morrisey: Die Karpatendeutschen aus der Slowakei. Kollektive Erinnerung und Integration in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1975. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 353-366

Schödl 1995: Günter Schödl: Lange Abschiede: Die Südostdeutschen und ihre Vaterländer (1918-1945). In: Ders. (Hg.): Land an der Donau. Berlin 1995 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 455-649