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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Meine Erlebnisse

Autor/Autorin: Peter W., geb. 1903, Landwirt

Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, Gedichte, Reisebericht, handschriftliches Manuskript, 161 Seiten

Entstehungszeit: 1971/1973

Zeitraum der Schilderung: 1903-1973, Auszug: 1939-1943

Personen: -

Schlagworte: Alltag, Bräuche, Lager, Landwirtschaft, Treck, Umsiedlung im Zweiten Weltkrieg, Enteignung von Polen.

Geographische Schlagworte: Ostgalizien, Brigidau, Przemyśl, Pabianice, Rozdrazewo, Warthegau

Konkordanz: Brigidau → Laniwka, Ukraine; Lodsch → Łódź;

Rozdrazewo → Rozdrażew, Polen

Fundort: Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Galiziendeutsches Heimatarchiv, Signatur IX Nr. 15; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/martin-opitz-bibliothek

Editionsmodus: Digitalisat (Auszug), Transkript (Auszug)

Aufgrund des Umfangs der Quelle wurden nur die Passagen zur Umsiedlung im Zweiten Weltkrieg ausgewählt, da diese Vorgänge selten ähnlich detailliert geschildert werden.1


Inhalt:

Der Autor geht kurz auf die Entstehung seines Heimatdorfes ein und beschreibt dann angelehnt an seine Biographie sehr detailliert Alltagsleben, Festtagsbräuche und, etwas weniger ausführlich, die Kontakte zu Polen. Er berichtet aus der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, wobei sein Wehrdienst in Polen in der Zwischenkriegszeit eine Sonderstellung einnimmt. Mit der Umsiedlung der Bewohner Brigidaus in den Reichsgau Wartheland im Zweiten Weltkrieg, über die Herr W. ebenfalls sehr detailliert berichtet, endet die deutsche Geschichte des Dorfes. Herr W. wurde 1943 zur Wehrmacht eingezogen. Seine Kriegserlebnisse und sein weiteres Leben in der DDR sowie der Bericht von einer Reise zu Herrn W.s kurzzeitigem Hof im "Warthegau" tragen die Züge einer sehr detailversessenen Autobiographie.


Einordnung/Kommentar:

Herr W. berichtet von einem bis zur Aussiedlung recht entspannten Verhältnis zu den polnischen Nachbarorten und zum polnischen Staat. Er stellt zwar fest, die Polen hätten 1939 "einen Haß auf uns Deutsche" entwickelt, von den für andere Regionen dokumentierten Ausschreitungen zu Kriegsbeginn2 kann er jedoch nicht berichten. Herr W. war jedoch Betroffener eines anderen prägenden Kapitels deutsch-polnischer Geschichte. Die Eroberung von "Lebensraum im Osten" war eines der zentralen Ziele der Nationalsozialisten. Durch den Krieg gegen Polen und die Annexion umfangreicher polnischer Territorien wie dem Reichsgau Wartheland rund um Posen/Poznań, in denen nur sehr wenige oder gar keine Deutsche lebten, schien im Jahr 1939 der gewünschte Lebensraum gewonnen zu sein.3 Die Siedler, die notwendig waren, um die eroberten Regionen zu "germanisieren", gab es im Deutschen Reich trotz aller anderslautender propagandistischer Beteuerungen jedoch nicht. Die Reichsregierung schloss deshalb mit verschiedenen europäischen Ländern Umsiedlungsverträge ab, um die dort ansässigen deutschen Bevölkerungsgruppen ins umzusiedeln.4 Die Umsiedlungen wurden also von der Reichsregierung, nicht von Vertretern der deutschen Minderheiten initiiert. Neben Deutschen aus der Bukowina (Rumänien, Russland), Bessarabien (Russland, 1918-1940 Rumänien), der Dobrudscha (Bulgarien, Rumänien), der Gottschee (Jugoslawien), Südtirol (Italien) waren auch Deutsche aus dem Baltikum (Estland, Lettland), Wolhynien (Polen, Russland) und Galizien (Polen, Ukraine) wie Herr W. Objekte dieser Verträge.5

Die Siedlungsgebiete der meisten Betroffenen gerieten erst infolge des Hitler-Stalin-Paktes und der Niederlage Polens unter die Hoheit der Sowjetunion. Bisher hatten die späteren Umsiedler in Staaten gelebt, deren Beziehungen zur Sowjetunion äußerst angespannt waren. Die von Unterdrückung und Hungernöten gekennzeichneten Lebensverhältnisse in der Sowjetunion wurden dort zusätzlich propagandistisch überzeichnet.6 Die von Herrn W. angeführte Furcht, unter sowjetischer Herrschaft leben zu müssen, trug in diesen Regionen zusammen mit der deutschen Propaganda daher mit zur Bereitschaft bei, sich umsiedeln zu lassen.7 Bauern wie Herr W. standen insbesondere der Kollektivierung der Landwirtschaft, welche die Sowjetunion in den von ihr annektierten Gebieten durchführte, ablehnend gegenüber. Die Aussicht auf einen eigenen Hof in den vom Deutschen Reich annektierten bzw. besetzten Ostgebieten wirkte vor diesem Hintergrund verlockend.8

Da die Umsiedlungen quasi den Auftakt zu einem zentralen Projekt des Dritten Reichs, der Germanisierung des Ostens, bildeten, bekamen sie in der NS-Propaganda einen prominenten Platz zugewiesen. Die Trecks der "Volksdeutschen" wurden zu Pioniertaten verklärt9, die Umsiedlung dargestellt als Verwirklichung des Wunsches der Volksdeutschen, in die Volksgemeinschaft zurückzukehren.10 Herrn W.s Beschreibung macht jedoch deutlich, dass von einem solch langgehegten Wunsch keine Rede sein kann, sondern dass die Umsiedlung für die Betroffenen überraschend kam und die Entscheidung aufgrund der Kriegslage getroffen wurde.11 Der Bericht gibt zudem einen Eindruck, unter welch menschenunwürdigen Verhältnissen die 55.000 Galiziendeutschen tatsächlich umgesiedelt wurden.12 Viele Umsiedler mussten zudem weitaus länger als Herr W. in Lagern auf die Zuteilung eines neuen Hofes warten oder gingen, wenn sie als "rassisch minderwertig" galten, ganz leer aus.13

Voraussetzung für die Ansiedlung der Galizien- und anderer "Volksdeutscher" im sogenannten Warthegau war die Vertreibung der dort bisher ansässigen polnischen Bevölkerung einschließlich der Juden. 610-625.000 Menschen mussten deshalb unter widrigsten Bedingungen ihre Heimat verlassen.14 Sie wurden gänzlich enteignet, angemessene Aufnahmeräume waren für sie nicht vorgesehen.15 Die Aussiedlung der Juden aus den annektierten polnischen Gebieten bildet den Auftakt zu ihrer Ghettoisierung und schließlich Ermordung. Die Umsiedlung, deren Objekt auch Herr W. war, ist daher aufs Engste mit der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten verknüpft.16

Herrn W.s Schilderung der Begegnung mit den ehemaligen Besitzern seines neuen Hofes lässt nur erahnen, wie die Lebensverhältnisse der vertriebenen Polen waren. Sie mussten nicht selten auf ihrem ehemaligen Eigentum für die neuen Besitzer arbeiten.17 Sein Bericht zeigt aber auch, dass vielen Deutschen ihre eigene Lage vollständig bewusst war. Sie trafen in der Regel kurz nach der Deportation der Vorbesitzer auf ihren neuen Höfen ein - dies war beabsichtigt, da die Versorgung des Viehs gewährleistet bleiben sollte.18 Da die Polen bestenfalls 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen durften19 und daher nicht selten die Schränke im neuen Heim noch mit fremder Kleidung gefüllt waren oder Geschirr auf dem Tisch stand, war kaum zu übersehen, dass die Höfe noch vor kurzer Zeit von Menschen bewohnt gewesen waren, die wohl nicht freiwillig gegangen waren. Herr W. verspürte zwar Mitleid mit den Polen und unterstützte sie, nahm die Situation aber als gegeben und unabänderlich hin. Ähnliche Reaktionen auf das Schicksal der Polen sind auch von anderen Umsiedlern bekannt. Sie schwanken zwischen Mitgefühl über die weitaus häufigere Gleichgültigkeit bis hin zu Diskriminierungen der Polen.20 Herrn W.s Bericht ist insgesamt ein Beispiel für die prekäre Lage der umgesiedelten Volksdeutschen, die sich sowohl als Täter als auch als Opfer sehen konnten.21


1 Schulze 2006, S. 189.

2 Krzoska 2010, S. 68f.

3 Schulze 2006, S. 202; Sakson 2010, S. 3; Roth 2010, S. 10, 14; Ziółkowska 2010, S. 92f.

4 Schulze 2006, S. 204; Hecker 1971; Schwartz 2008, S. 533-537; Krzoska 2010, S. 66-68.

5 Schulze 2006, S. 204.

6 Hahn, Hahn 2010, S. 178; Schröder 2010, S. 64.

7 Vgl. Schulze 2006, S. 189-192; Roth 2010, S. 10; Schwartz 2008, S. 535.

8 Vgl. Schulze 2006, S. 190f; Schröder 2010, S. 56-60.

9 Vgl. Bade, Wilfrid: Der Treck der Volksdeutschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narew-Gebiet; Berlin 1941. Zur Umsiedlungspropaganda auch: Fielitz 2000.

10 Schulze 2006, S. 188.

11 Vgl. Schulze 2006, S. 189; Schröder 2010, S. 52f, 59f.

12 Vgl. Schulze 2006, S. 204; Pinkus, Fleischhauer 1987, S. 233.

13 Schulze 2006, S. 192f, 200.

14 Madajczyk 1988, S. 430; Sakson 2010, S. 3.

15 Rutowska 2010, S. 46-50; Ziółkowska 2010, S. 96f.

16 Schulze 2006, S. 183-188; Schwartz 2008, S. 543-551; Roth 2010, S. 11-18; Schröder 2010, S. 63; Friedrich 2010.

17 Schulze 2006, S. 196.

18 Roth 2010, S. 16.

19 Rutowska 2010, S. 46

20 Schulze 2006, S. 197f, 202; Schwartz 2008, S. 537f; Schröder 2010, S. 55; Krzoska 2010, S. 78-81.

21 Vgl. Krzoska 2010, S. 82.

Literatur:

Bade, Wilfrid: Der Treck der Volksdeutschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narew-Gebiet; Berlin 1941

Fielitz, Wilhelm: Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde 82). Marburg 2000

Friedrich 2010: Klaus-Peter Friedrich: Die jüdische Bevölkerung im Warthegau: Vertreibung, Ausbeutung, Ermordung. In: Neander, Sakson 2010, S. 101-116

Hahn, Hahn 2010: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertriebenen im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010

Hecker 1971: Hellmuth Hecker (Hg.): Die Umsiedlungsverträge des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt/Main 1971

Krzoska 2010: Markus Krzoska: Volksdeutsche im Warthegau. In: Neander, Sakson 2010, S. 66-82

Madajczyk 1988: Czesław Madajczyk: Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945. Köln 1988

Neander, Sakson 2010: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Beiträge einer Tagung am 16.-18. Oktober 2009 in Poznań (Posen) veranstaltet von der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e.V. (Darmstadt) und dem Instytut Zachodni (Poznań). Marburg 2010

Lempart 1999: Matthias Lempart: Polen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. Teil 1. München 1999, S. 407-495

Pinkus, Fleischhauer 1987: Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1987

Röskau-Rydel 1999: Isabel Röskau-Rydel: Galizien. In: Dies. (Hg.): Galizien. Berlin 1999 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 15-217

Roth 2010: Markus Roth: Nationalsozialistische Umsiedlungspolitik im besetzten Polen - Ziele, beteiligte Institutionen, Methoden und Ergebnisse. In:, S. 9-20

Rutowska 2010: Maria Rutowska: Die Aussiedlung von Polen und Juden aus den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten ins Generalgouvernement in den Jahren 1939-1941. In: Neander, Sakson 2010, S. 43-51

Sakson 2010: Andrzej Sakson: Einführung. In: Neander, Sakson 2010, S.1-5

Schröder 2010: Matthias Schröder: "Rettung von dem Bolschewismus"? Die Ansiedlung der Deutschbalten im Warthegau. In: Neander, Sakson 2010, S. 52-65

Schulze 2006: Rainer Schulze: "Der Führer ruft!" Zur Rückholung der Volksdeutschen aus dem Osten. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006. S. 183-204

Schwartz 2008: Michael Schwartz: III. Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656

Ziółkowska 2010: Anna Ziółkowska: Die Situation der Polen im Warthegau. In: Neander, Sakson 2010, S. 92-100

Ortsplan von Brigidau (Stand 1939) unter:

http://www.galiziengermandescendants.org/Maps/Brigidauplot.pdf