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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Fragebogen [Galizien 1782-1946]

Autorin: Brunhild K.

Quellenbeschreibung: handschriftlich ausgefüllter maschinenschriftlicher Fragebogen, 8 Blatt (14 Seiten), 1 Foto, 2 maschinenschriftliche Abschriften von Gedichten im Anhang

Entstehungszeit: 1956

Entstehungszusammenhang: Paul Jendrike (1888-1966), von 1922 bis 1939 Vorsitzender des Landesverbandes deutscher Lehrer und Lehrerinnen in Polen, versandte zwischen 1949 und 1966 Fragebögen an die ehemaligen Mitglieder seines Verbandes, in denen er sie nach ihrem persönlichen Werdegang, der Geschichte ihrer Schulen und ihrer Schulorte, deren Stellung im Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten innerhalb Polens, dem Grad der Organisiertheit der deutschen Bevölkerungsgruppe und deren politischer Haltung befragte sowie nach der Unterrichtssituation, der Unterrichtssprache, der sozialen Zusammensetzung und dem schulischen Werdegang der Schüler. Der Fragebogen wurde aufgrund des Todes des Lehrers Jakob K. (1884-1946) von dessen Tochter ausgefüllt.

Entstehungsort: Dörzbach, Baden-Württemberg

Zeitraum der Schilderung: 1782-1946

Schlagworte: Auswanderung, Gründung der Republik Polen 1918, Lehrer, Minderheitenpolitik, Schule, Schulpolitik, Sprachenpolitik, Umsiedlung im Zweiten Weltkrieg, Unterstützung aus Deutschland

Geographische Schlagworte: Brigidau, Reichsgau Wartheland

Konkordanz: Brigidau → Ланівка (Laniwka), Ukraine

Fundort: Herder-Institut Marburg, Dokumentensammlung, Signatur: DSHI100 Jendrike 17, Galizien, Blatt 41-44, 54-57, https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/herder-institut-ev; Depositum der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V.

Editionsmodus: vollständiger Scan


Inhalt:

Die Autorin gibt einen kursorischen Überblick über die Geschichte und Gestalt der Gemeinde Brigidau in Galizien, in der ihr Vater Lehrer war. Sie beginnt mit der Gründung Brigidaus durch pfälzische Siedler im 18. Jahrhundert und endet mit der Umsiedlung der Dorfbevölkerung im Zweiten Weltkrieg in den sogenannten Warthegau und der Flucht von dort in den Harz. Auf die Schule des Ortes geht sie, dem Anlass ihres Berichtes entsprechend, intensiver ein.


Einordnung/Kommentar:

Der Bericht von Frau K. steht beispielhaft für die Erinnerungskultur vieler Galiziendeutscher. Kaiser Joseph II. hatte im späten 18. Jahrhundert angeregt, in Galizien Auswanderer aus Süddeutschland, darunter viele Pfälzer, anzusiedeln, um die Region wirtschaftlich zu entwickeln.1 Viele dieser Familien hielten ähnlich wie Frau K. die Erinnerung an ihre Herkunft und die Anfänge ihrer Geschichte im östlichen Europa über mehrere Generationen lebendig. Frau K. war zudem Tochter eines Lehrers, der, wie viele Lehrer an deutschen Minderheitenschulen, besonderes Augenmerk auf die deutsche Geschichte und Tradition seiner Heimat richtete.2

Frau K. beschreibt Brigidau als eine Gemeinde, in der seit ihrer Gründung Vieles, von den Gehöften der einzelnen Bauernfamilien bis zur Kirche und zur Molkerei, in Gemeinschaftsarbeit aufgebaut worden war. Ihre Fortsetzung fand diese gemeinschaftliche Wirtschaftsform in einem starken Genossenschaftswesen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts florierte.3 Frau K. schildert die mühevolle und entbehrungsreiche Anfangszeit der Siedlung ebenso wie die Privilegien der Siedler und wie diese sich durch die wechselvolle Geschichte hindurch einen veritablen Wohlstand erarbeiteten. Diese Erfahrungen erklären das tiefe Gemeinschaftsgefühl der Brigidauer und die starke Identifikation mit ihrem Heimatort. Bezeichnend für die Tiefe dieser Bindung ist, dass sogar die nationalsozialistischen Raumplaner darauf Rücksicht nahmen und den Ort im Reichsgau Wartheland, in dem die Brigidauer angesiedelt wurden, 1943 ebenfalls in Brigidau umtauften anstatt ihm nach ihren sonstigen Gepflogenheiten einen Fantasienamen zu geben oder den alten polnischen Namen zu übersetzen.4 Der Vater der Berichterstatterin profitierte davon, dass die Brigidauer ihre Dorfgemeinschaft auch nach der von den Nationalsozialisten organisierten Umsiedlung ins deutsch besetzte Polen erhalten wollten und ihn an die dortige Schule holten.

Herrn K.s Laufbahn als Volksschullehrer ist für die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg nicht untypisch. Für viele junge Frauen und Männer aus einfachen Verhältnissen stellten die Lehrerbildungsanstalten eine vergleichsweise sichere Möglichkeit dar, durch Bildung sozial aufzusteigen - auch der Großteil von Herrn K.s Schülern, die eine weiterführende Schule besuchten, wählten dafür eine Lehrerbildungsanstalt. Die deutschsprachigen zukünftigen Lehrer Galiziens besuchten wie Herr K. und später eine Anzahl seiner Schüler fast alle die Lehrerbildungsanstalt in Bielitz. Dass Herr K. dort kein Examen ablegen konnte, zeigt aber auch, wie stark dieser Personenkreis von der wirtschaftlichen Situation des Elternhauses abhängig war. Herr K. finanzierte sein auf dem "zweiten Bildungsweg" erlangtes Examen durch eine Tätigkeit als Hilfslehrer, was wiederum belegt, dass deutschsprachige Lehrer gesucht wurden.5

Auch die Geschichte der Volksschule in Brigidau, an der Herr K. bis zur Umsiedlung 1940 unterrichtete, ist für das Schulwesen der deutschen Bevölkerungsgruppe in Galizien beispielhaft. Die Schule wurde bereits ein Jahr nach Gründung der Gemeinde eingerichtet und belegt damit eindrucksvoll den Stellenwert, den die deutschen Siedler der Bildung beimaßen.6 Es war auch nicht ungewöhnlich, dass die Schule von der Kirchengemeinde getragen wurde. Für die meisten Deutschen stellte die Konfession einen zentralen Teil ihrer Identität dar, sie unterschieden kaum zwischen weltlicher und kirchlicher Gemeinde. In der Zwischenkriegszeit gehörte Brigidau zum katholisch geprägten Polen, was gerade bei evangelischen polnischen Staatsbürgern deutscher Nationalität die Gleichsetzung von Protestantismus und deutscher Nationalität verstärkte.7

Der polnische Staat gestand zwar allen Minderheiten das Recht auf Unterricht in ihrer Sprache zu, er unterstützte aber weder das Minderheitenschulwesen als solches noch Privatschulen, da er - auch aus politisch-pädagogischen Gründen - ein zentrales, einheitliches Schulsystem anstrebte. Die Zahl staatlicher Schulen, in der in einer Minderheitensprache unterrichtet wurde, verringerte sich deshalb stetig.8 In vielen mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gemeinden wurden daraufhin oft mit hohem Aufwand Privatschulen gegründet.9 In Brigidau war dies nicht notwendig, da bereits eine derartige Schule bestand. Ohnehin änderte sich die Schulsituation in Galizien durch die Gründung des polnischen Staates weniger stark als in den nun polnischen Gebieten, die bis dahin zum Deutschen Reich gehört hatten. Für die dortigen Deutschen war es eine neue Erfahrung, einer Minderheit anzugehören, während die Deutschen Galiziens bereits seit fast 150 Jahren in dieser Situation lebten und beispielsweise ihre Schulen entsprechend eingerichtet hatten. Auch der polnische Staat ging davon aus, dass von den galizischen Deutschen nicht die Gefahr einer Irredenta ausging und betrieb hier eine zurückhaltendere Schulpolitik als beispielsweise im Posener Raum.10 In Galizien verfügten, wie auch Frau K. berichtet, fast alle überwiegend deutsch besiedelten Ortschaften über eine deutsche Schule. Noch 1936 erhielten beinahe 70 Prozent der deutschen Kinder in Galizien Deutschunterricht, über die Hälfte besuchte eine deutschsprachige Schule.11 Die polnischen Behörden bestanden darauf, dass an diesen Schulen Polnisch von einer qualifizierten Lehrkraft unterrichtet wurde, ansonsten blieben die Schulen vergleichsweise unbehelligt.12

Den Gemeinden und Schulvereinen fiel es nicht leicht, die Schulen zu unterhalten. Allerdings war auch im Deutschen Reich das Interesse groß, die deutsche Minderheit in Polen zu unterstützen. Sie sollten ihre Sprache und ihre Kultur pflegen. Dafür galt deutschsprachiger Schulunterricht als wichtige Voraussetzung.13 Verschiedene Institutionen unterstützten daher deutsche Schulen in Polen. Der Gustav-Adolf-Verein setzte sich satzungsgemäß für protestantische Christen in der Diaspora ein. Deshalb unterstützte er bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Polen zahlreiche deutsche Privatschulen - auch hier spielte die Gleichsetzung von Konfession und Nationalität eine Rolle.14 Der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) sah seinen Zweck in der Erhaltung des Deutschtums im Ausland und wurde darin auch finanziell vom Auswärtigen Amt unterstützt. Bezeichnender Weise war er 1908 aus dem 1881 gegründeten Allgemeinen Deutschen Schulverein hervorgegangen, die Unterstützung von deutschen Minderheitenschulen war hier also zentral. Der Verein wurde 1933 in Volksbund für das Deutschtum im Ausland umbenannt und geriet immer stärker unter Kontrolle des nationalsozialistischen Regimes. Mit seiner Minderheitenpolitik verfolgte er eindeutig politische Ziele.15 Der deutsche Staat benutzte beide Organisationen, um die deutschen Minderheiten aus politischen Gründen verdeckt zu subventionieren und so letztlich seine Revisions- und schließlich Expansionspolitik voranzutreiben.16

Die Politik des Deutschen Reiches, die deutschen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa zu stärken, erfuhr mit dem sogenannten Hitler-Stalin-Pakt und dem Überfall auf Polen 1939 eine Wende. Deutschland und die Sowjetunion hatten in diesem Pakt ihre Einflusssphären in Europa abgesteckt, das östliche Galizien gehörte zum sowjetischen Gebiet. Deshalb marschierte dort 1939 auch wie von Frau K. beschrieben nach einem kurzen deutschen Intermezzo die Rote Armee ein. Deutschland hingegen hatte mit der Eroberung Westpolens anscheinend den Lebensraum im Osten gewonnen, den Adolf Hitler immer gefordert hatte. Jetzt fehlten allerdings die Siedler, die diesen Raum "germanisieren" konnten. Die Nationalsozialisten hatten daher mit der Sowjetunion die Vereinbarung getroffen, die deutschen Bevölkerungsgruppen, die durch die Expansion der Sowjetunion unter deren Kontrolle gelangten, in den deutschen Einflussbereich umsiedeln zu dürfen.17Diese Umsiedlung wurde, wie von Frau K. beschrieben, im Januar 1940 von deutschen Organisationen durchgeführt.18 Frau K. berichtet in zahlreichen Details von der Umsiedlung - ein Hinweis darauf, wie zentral dieser Vorgang für die Erinnerungskultur der Galiziendeutschen war. Die Autorin verzichtete darauf, die Gefühle der Brigidauer angesichts ihres Heimatverlustes zu beschreiben. Das Gedicht ihres Vaters, das sie dem Fragebogen beifügte, lässt aber auf große Wehmut schließen.

Vom Leben der Brigidauer nach der Ansiedlung im Wartheland und von der Flucht 1945 berichtet Frau K. nur kursorisch. Offenbar war die Geschichte Brigidaus für sie mit der Umsiedlung beendet, obwohl die Brigidauer sowohl 1940 als auch 1945 als Gruppe an einen neuen Wohnort gebracht wurden und ihr Vater weiterhin die gleichen Kinder an wechselnden Orten unterrichtete.


1 Lempart 1999, S. 419, 431f, 439 457, 461; Eser 2010, S. 85-94; Röskau-Rydel 1999, S. 22-38.

2 Vgl. Eser 2010, S. 507f.

3 Lempart 1999, S. 461-463; Röskau-Rydel 1999, S. 133-145.

4 Verordnungsblatt 1943, S. 97.

5 Vgl. Eser 2010, S. 252, 507-509, 531-534; Röskau-Rydel 1999, S. 143.

6 Vgl. Lempart 1999, S. 475f; Röskau-Rydel 1999, S. 140.

7 Eser 2010, S. 68f, 87, 671; Lempart 1999, S. 464f.

8 Eser 2010, S. 117-120, 256, 262f, 368f, 445-461, 669; Lempart 1999, S. 452, 475-481.

9 Eser 2010, S. 461-500.

10 Eser 2010, S. 60-94, 365-368, 505, 668; Lempart 1999, S. 440-456.

11 Lempart 1999, S. 481, 484.

12 Eser 2010, S. 526f, 552-566.

13 Eser 2010, S. 21-23; Neměc 2010, S. 12f.

14 Eser 2010, S. 87; Friedrich 2003.

15 Eser 2010, S. 91, 137.

16 Eser 2010, S. 135-164, 223, 673; Luther 1999; Luther 2004; Krekeler 1973.

17 Roth 2010; Hecker 1971.

18 Roth 2010; Schulze 2006; Röskau-Rydel 1999, S. 191-195.


Literatur:

Eser 2010: Ingo Eser: "Volk, Staat, Gott!". Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918-1939. Wiesbaden 2010

Friedrich 2003: Norbert Friedrich: Der Gustav-Adolf-Verein in der Zeit des Nationalsozialismus - eine Skizze. In: Norbert Friedrich, Traugott Jähnichen (Hg.): Sozialer Protestantismus im Nationalsozialismus. Diakonische und christlich-soziale Verbände unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Münster 2003, S. 55-67

Hecker 1971: Hellmuth Hecker (Hg.): Die Umsiedlungsverträge des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt/Main 1971

Krekeler 1973: Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik des Deutschen Reiches. Stuttgart 1973

Lempart 1999: Matthias Lempart: Polen. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen. München 1999, S. 407-495

Luther 1999: Rudolf Luther: Blau oder braun? Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland - VDA - im NS-Staat 1933-1937. Neumünster 1999

Luther 2004: Tammo Luther: Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938. Die Auslandsdeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalismus und Nationalsozialismus. Stuttgart 2004

Röskau-Rydel 1999: Isabel Röskau-Rydel: Galizien. In: Isabel Röskau-Rydel (Hg.): Galizien (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1999

Roth 2010: Markus Roth: Nationalsozialistische Umsiedlungspolitik im besetzten Polen - Ziele, beteiligte Institutionen, Methoden und Ergebnisse. In: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Marburg 2010, S. 9-20

Schulze 2006: Rainer Schulze: "Der Führer ruft!" Zur Rückholung der Volksdeutschen aus dem Osten. In: Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hg.): Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 183-204

Verordnungsblatt 1943: Verordnungsblatt des Reichsstatthalters im Warthegau Nr. 12, 18.05.1943 (http://www.gross-wartenberg.de/vob/vob.pdf, Zugriff am 12.03.2013).