Zum Inhalt springen
Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Interview

Autor: Martin S.

Quellenbeschreibung: Erinnerungsbericht, digitalisiertes Tonband, Vollspur, 9 cm/sec., BASF LGS KL 85, 5:10 Minuten Laufzeit

Entstehungsort und -zeit: Tuttlingen, Baden-Württemberg, 29.06.1952

Entstehungszusammenhang: Die Aufnahme wurde auf einem Treffen der Banater Schwaben in Tuttlingen gemacht.

Zeitraum der Schilderung: 1914-1945

Schlagworte: Berufsstruktur, Besitzverhältnisse, Landwirtschaft, sozialer Wandel, Wehrdienst

Geographische Schlagworte: Betschmen, Kreis Semlin, Serbien, Syrmien

Konkordanz: Betschmen → Bečmen; Semlin → Земун/Zemun, Ortsteil Belgrads

Fundort: Institut für Volkskunde der Deutschen im östlichen Europa (vorm. Johannes Künzig Institut), Freiburg, Tonarchiv, Signatur: jki 0039-1_003; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/institut-fuer-volkskunde-der-deutschen-im-oestlichen-europa-vorm-johannes-kuenzig-institut-fuer-ostdeutsche-volkskunde

Editionsmodus: [vollständiges Transkript]


Inhalt:

Der Autor beschreibt kursorisch die sozio-ökonomische Entwicklung seines Heimatortes während der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg. Er geht besonders auf das sich wandelnde Verhältnis zwischen Deutschen und Serben ein und schildert dabei die unterschiedliche Berufsstruktur, die damit zusammenhängenden Besitzverhältnisse sowie die Zusammensetzung der lokalen politischen Gremien. Breiten Raum widmet er der Gefährdung der Deutschen durch Partisanen während des Zweiten Weltkriegs bis hin zur Flucht der Deutschen 1944. Herr S. selbst war zu dieser Zeit Soldat.


Einordnung/Kommentar:

Herrn S. Heimatort Betschmen/Bečmen liegt in Syrmien, einer Landschaft zwischen Donau und Save. Die Vorfahren der dort lebenden Deutschen waren zumeist im 17. und 18. Jahrhundert nach den Siegen über die türkischen Herrscher von den österreichischen Behörden angesiedelt worden. Fast die Hälfte der Deutschen war hier in Landstädten ansässig. Ein nur wenig höherer Prozentsatz aller Deutschen betätigte sich in der Landwirtschaft, etwas über ein Viertel jedoch wie von Herrn S. beschrieben als Handwerker.1

Der größere Teil Syrmiens gehört heute zu Kroatien, der östliche, aus dem Herr S. stammt, zu Serbien. Die Deutschen Syrmiens hatten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg stark assimiliert, insbesondere im kroatischen Teil.2 Ab 1918 war Syrmien Teil des Königreichs Jugoslawien, einem Vielvölkerstaat, in dem häufig Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen auftraten.3 Herr S. deutet an, dass im serbischen Teil Syrmiens eine gewisse Distanz zwischen Deutschen und Serben bestand.4 Die von ihm konstatierte Verschlechterung der Verhältnisse lässt sich an den 1936/38 eingeführten "Liegenschaftsverkehrsbestimmungen" verdeutlichen. Jeder Verkauf, aber auch jeder Erbgang von Grundstücken und Immobilien musste von einer staatlichen Kommission genehmigt werden, die prüfen sollte, ob die Besitzveränderung im Staatsinteresse sei. Damit sollte insbesondere in den Grenzgebieten verhindert werden, dass die Angehörigen nationaler Minderheiten eine zu einflussreiche Stellung erlangten und die Integrität Jugoslawiens gefährdeten.5 Die Kommission bestand jeweils aus einem Richter, dem Landrat und dem Gemeindenotar - die entsprechenden Amtsträger waren, wie auch Herr S. in seiner in diesem Punkt widersprüchlichen Aussage andeutet, in der Regel Serben. In vielen Gemeinden behinderte diese Regelung die wirtschaftlichen Aktivitäten der Deutschen6, in Betschmen scheint sie deren Grundbesitzerwerb jedoch nicht beeinträchtigt zu haben. Die Deutschen in Syrmien galten allerdings auch als loyale Staatsbürger mit einem lange Zeit nur mäßig ausgeprägten Nationalbewusstsein. Herrn S. Aussage zu seinem Dienst in vier Armeen unterstreicht dies. Er betrachtet diesen Umstand als Kuriosum, gibt aber keine Wertung darüber ab. Anscheinend hielt er es für selbstverständlich, dass er den Einberufungsbefehlen ohne Rücksicht auf seine Nationalität Folge zu leisten hatte. Dabei hätte er zumindest 1923 Grund zum Zweifel besessen, schließlich hatte er nicht nur bereits im Ersten Weltkrieg gedient und dies auch noch in der Armee des Kriegsgegners Serbien, sondern er gehörte auch einer Minderheit an, der nach der Staatsgründung bis kurz vor seiner Einberufung die vollen Bürgerrechte verwehrt geblieben waren.7

Der von Herrn S. geschilderte wirtschaftliche Erfolg der Deutschen, der bei weitem nicht für alle Deutsche gleicher Maßen zutraf, beruhte auf mehreren Säulen. Unter anderem besaß Landbesitz innerhalb der deutschen Gemeinschaft weitaus höheren Prestigewert als in anderen Bevölkerungsgruppen Jugoslawiens, weshalb die Deutschen größere Anstrengungen unternahmen, Land zu erwerben. Die Deutschen wendeten, anders als ihre serbischen Nachbarn, das Anerbenrecht an, was die Bildung größerer Höfe begünstigte. Außerdem waren sie bereit, Kapital von Investoren zum Landerwerb einzusetzen und wirtschafteten aufgrund eines durchschnittlich höheren Bildungsgrades insgesamt effektiver. Vor allem aber profitierten sie von einem erfolgreichen Genossenschaftssystem, das in Syrmien allerdings erst relativ spät ausgebaut wurde, nämlich nach der Unabhängigkeit Kroatiens.8 Die deutsche Wehrmacht hatte im April 1941 Jugoslawien in wenigen Tagen erobert und dort einen kroatischen Satellitenstaat errichtet, der von der Ustascha, einer rechtsextremen, nationalistischen Bewegung, geführt wurde.9 Diesem Staat wurde auch Syrmien angegliedert. Am 21. Juni 1941 erließ Kroatien das "Gesetz über die Deutsche Volksgruppe im Unabhängigen Staat Kroatien". Die "Volksgruppe" war bereits im Februar 1941 als eine Art Körperschaft, der alle Deutschen angehörten, gegründet worden. Sie wurde durch dieses Gesetz zu einer juristischen Person. Durch die Vorrechte, die ihr der kroatische Staat gewährte, entwickelte sie sich zu einem Staat im Staate, der sogar über eigene bewaffnete Einheiten verfügte.10 Die kroatische Regierung sah dadurch zwar ihre Souveränität in Gefahr, erklärte sich aber schließlich 1943 dazu bereit, deutsche Soldaten ihrer Streitkräfte wie Herrn S. an die Wehrmacht abzutreten.11

Die Partisanen, von denen Herr S. berichtet, griffen aufgrund der brutalen Unterdrückungspolitik sowohl der kroatischen Regierung als auch der deutschen und italienischen Besatzer im restlichen Jugoslawien zu den Waffen.12 Ihre Angriffe bewogen gemeinsam mit dem Vorrücken der Roten Armee die Volksgruppenführung, Evakuierungspläne auszuarbeiten. In vielen Teilen Jugoslawiens wurden diese Pläne zu spät oder gar nicht umgesetzt, die Deutschen Syrmiens konnten jedoch fast vollständig in Sicherheit gebracht werden.13 Sie entgingen damit dem Schicksal der in Jugoslawien zurückbleibenden Deutschen, die zunächst Ausschreitungen ausgesetzt waren und dann mehrere Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern leben und Zwangsarbeit leisten mussten. Ein großer Teil überlebte diese Strapazen nicht.14

1 Bethke 2009, S. 80-88; Spannenberger 1999, S. 871-875, 915-920; Schödl 2010, S. 128.

2 Spannenberger 1999, S. 874f, 886-889; Bethke 2009, S. 123-125; Luković 2007, S. 149f.

3 Ramet 2012; Spannenberger 1999, S. 865-904.

4 Vgl. Spannenberger 1999, S. 867.

5 Spannenberger 1999, S. 889f, 917f.

6 Spannenberger 1999, S. 917f.

7 Spannenberger 1999, S. 891.

8 Luković 2007, S. 150, 157-160; Vgl. Bethke 2009, S. 166.

9 Spannenberger 1999, S. 902-905.

10 Bethke 2009, S. 588-624; Spannenberger 1999, S. 906, 909-915; Schödl 2010, S. 129.

11 Spannenberger 1999, S. 912-914; Vgl. Böhm 2009, S. 334-337; Casagrande 2003, S. 197-207.

12 Korb 2013; Sundhaussen 2010, S. 322; Casagrande 2003, S. 199f.

13 Janjetović 2010, S. 150.

14 Janjetović 2010, S. 150f; Spannenberger 1999, S. 914f; Schödl 2010, S. 129f.


Literatur:

Bethke 2009: Carl Bethke: Deutsche und ungarische Minderheiten in Kroatien und der Vojvodina 1918-1941. Identitätsentwürfe und ethnopolitische Mobilisierung. Wiesbaden 2009

Böhm 2009: Johann Böhm: Die Deutsche Volksgruppe in Jugoslawien 1918-1941. Innen- und Außenpolitik als Symptome des Verhältnisses zwischen deutscher Minderheit und jugoslawischer Regierung. Frankfurt/Main 2009

Casagrande 2003: Thomas Casagrande: Die volksdeutsche Waffen-SS Division "Prinz Eugen". Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Frankfurt/Main 2003

Janjetović 2006: Zoran Janjetović: Die Donauschwaben in der Vojvodina und der Nationalsozialismus. In: Mariana Hausleitner (Hg.): Der Einfluss von Faschismus und Nationalsozialismus auf Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa. München 2006, S. 219-235

Janjetović 2010: Zoran Janjetović: Deutsche aus Jugoslawien. In: Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln Weimar 2010, S. 149-152

Korb 2013: Alexaner Korb: Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941-1945. Hamburg 2013

Luković 2007: Jovica Luković: "Es ist nicht gerecht, für eine Reform aufkommen zu müssen, die gegen einem selbst gerichtet ist." Agrarreform und das bäuerliche Selbstverständnis der Deutschen im jugoslawischen Banat 1918-1941. Ein Problemaufriss. In: Walter Engel (Hg.): Das Banat - ein europäischer Kulturraum. Essen 2007, S. 141-166

Ramet 2012: Sabrina P. Ramet: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildungen und ihrer Probleme. Münster 2012

Schödl 2010: Günter Schödl: Deutsche aus dem Banat. In: Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln Weimar 2010, S. 128-131

Spannenberger 1999: Norbert Spannenberger: Jugoslawien. In: Walter Ziegler (Hg.): Die Vertriebenen vor der Vertreibung. Die Heimatländer der deutschen Vertriebenen im 19. und 20. Jahrhundert: Strukturen, Entwicklungen, Erfahrungen, 2 Teile (Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen). München 1999, S. 865-937

Sundhaussen, Holm: Jugoslawien. In: Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln Weimar 2010, S. 320-324