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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Kriegsende und Vertreibung

Autor: Richard S., geboren 1920/21, Forstbeamter

Quellenbeschreibung: Autobiographischer Bericht, maschinenschriftl. Transkript, 27 Seiten

Entstehungszeit: 1980/81

Entstehungszusammenhang: nicht bekannt

Zeitraum der Schilderung: 1945-1946

Schlagworte: Beruf, Besatzung, Diskriminierung, Jagd, Kriegserlebnisse, Kriegsgefangenschaft, Luftangriff, Schmuggel, Zwangsarbeit

Geographische Schlagworte: Tschechien, Böhmerwald, Salnau, Grasfurth, Svini/Schweinitz, Berching, Wernersreuth (Neualbenreuth), Schwandorf

Konkordanz: Salnau → Želnava; Grasfurth → Brod, heute Wüstung auf dem Gebiet der Gemeinde Stožec; Haberdorf → Ovesná, heute Wüstung auf dem Gebiet der Gemeinden Stožec und Nová Pec; Neuofen → Nová Pec; Svini/Schweinitz → Trhové Sviny; Vesely a.d.L./Wesseli an der Lainsitz → Veselí nad Lužnicí; Prachatitz → Prachatice; Wallern → Volary (alle Tschechien)

Fundort: Archiv des Böhmerwaldmuseums Passau; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/archiv-des-boehmerwaldmuseums-passau

Editionsmodus: vollständiges Digitalisat


Inhalt:

Der Autor beschreibt seine Erlebnisse als Soldat am Kriegsende und nach seiner Heimkehr in den Böhmerwald im Frühsommer 1945. Seine Familie wurde zwar enteignet und musste sich beschränken, Herr S. konnte jedoch in seinen Beruf in der Forstwirtschaft zurückkehren. Für die Zeit vom Sommer 1945 bis zum März 1946 skizziert er ein relativ normales Alltagsleben, das jedoch durch abenteuerliche nächtliche Schmuggel- und Schleusergänge über die österreichische und bayerische Grenze kontrastiert wird. Auf seine und seiner Schwester Deportation zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft im Landesinneren folgt die Flucht nach Bayern. Mit einer knappen Beschreibung seines neuen Arbeitsplatzes in der bayerischen Forstverwaltung beendet Herr S. seinen Bericht.


Einordnung/Kommentar:

Die Amerikaner entließen bereits ab März 1945 die ersten Kriegsgefangenen, insbesondere Männer, die für den Wiederaufbau von Wirtschaft und Versorgung gebraucht wurden1; da dies auch auf Herrn S. zutraf, wurde er bereits Mitte Mai 1945 nach kurzer Gefangenschaft entlassen und versuchte wie die meisten gleich in seinen Heimatort zurückzukehren.2 Da Herrn S. Weg nur durch amerikanisch besetztes Gebiet führte und die Amerikaner die Grenzen zwischen Bayern, Österreich und der Tschechoslowakei erst einige Zeit nach Kriegsende schlossen3, gelang ihm dies noch problemlos. Die amerikanische Präsenz in dem überwiegend von Deutschen besiedelten Gebiet verhinderte Ausschreitungen gegen Deutsche, wie sie in anderen Teilen der Tschechoslowakei am Kriegsende vorkamen.4 Herrn S. Schilderung zeigt deutlich, dass die Deutschen in dieser Region zunächst nicht mit einer Ausweisung rechneten, sondern sich bemühten, zu ihrem Vorkriegsalltag zurückzukehren. Dies wurde ihnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit dadurch erleichtert, dass die tschechischen Behörden insbesondere in den Grenzgebieten Schwierigkeiten hatten, staatliche Strukturen zu etablieren.5. Die Aussiedlung der Deutschen wurde auch aufgrund dieses Mangels nicht sofort durchgeführt, benötigte Arbeitskräfte wie Herr S. blieben vorerst an ihren Vorkriegsarbeitsplätzen.6 Für die meisten Deutschen in der Tschechoslowakei sah der Alltag zu dieser Zeit allerdings bereits anders aus. Sie waren einer Arbeitspflicht unterworfen und wurden, wie später auch Herr S., weit von ihren Heimatorten entfernt eingesetzt.7

Nach der Potsdamer Konferenz, mit der die bisher "wild" durchgeführten Vertreibungen nun in anderer Form offizielle Politik wurden und damit das Schicksal aller Deutscher geklärt schien8, verschlechterten sich aber auch hier die Lebensbedingungen, beispielsweise durch die von Herrn S. beschriebene Zwangseinweisung in schlechtere Wohnungen und durch Enteignungen.9 Für Deutsche galten generell diskriminierende Bestimmungen, welche in der entlegenen Gebirgsregion offenbar nur zum Teil umgesetzt wurden. So wurde den Deutschen die Nutzung von Radios, Telefonen und Fahrrädern untersagt, das Verbot, den Wald zu betreten, war in Herrn S.' Wohnort jedoch nicht durchsetzbar.10 Herr S. stellte daher, wie er beiläufig beschreibt, sein Fahrrad bei Bekannten unter, da er es ohnehin nicht benutzen durfte.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Deportation von Herrn S. zur Zwangsarbeit ins Innere der Tschechoslowakei widersinnig, schließlich wurde er auch in seiner Heimatregion als Arbeitskraft gebraucht. Wäre hingegen die Räumung des Ortes von den Deutschen das Ziel der Aktion gewesen, hätte er auch sofort aus der Tschechoslowakei ausgewiesen werden können. Dem standen jedoch ökonomische Interessen entgegen. Das Landwirtschaftsministerium forderte seit Mai 1945 immer wieder explizit aus den Grenzgebieten Arbeitskräfte an, woraufhin dann Deutsche zwangsweise in Agrarregionen gebracht wurden.11 Im Rahmen derartiger Aktionen wurde auch Herr S. deportiert - der Einsatz in der Landwirtschaft galt offenbar als wichtiger als seine Tätigkeit in der Forstwirtschaft.

Herr S. berichtet, während der Zwangsarbeit gut behandelt worden zu sein. Dies ist nicht außergewöhnlich. Die Behandlung der deutschen Zwangsarbeiter hing von den Umständen am jeweiligen Arbeitsplatz und den dortigen Verantwortlichen ab. Es sind daher Berichte überliefert, die dem von Herrn S. entsprechen, aber auch solche, die von sehr schlechten Bedingungen und Misshandlungen berichten.12 Die Deutschen wurden dabei zwar oft in Lagern untergebracht, beim Einsatz in der Landwirtschaft wurden die Arbeitskräfte aber meist wie Herr S. beim Arbeitgeber einquartiert.13

1 Overmans 2008, S. 415-421, 433.

2 Vgl. Wiedemann 2007, S. 83.

3 Staněk 1995, S. 143.

4 Vgl. Staněk 2002, S. 71f; Schwartz 2008, S. 621-625, 639; Alexander 1997, S. 95.

5 Wiedemann 2007, S. 83, 89f.

6 Vgl. Schwartz 2008, S. 639; Staněk 2002, S. 55.

7 Staněk 2002, S.36f; Staněk 2007, S. 99-110; Wiedemann 2007, S. 243.

8 Vgl. Schwartz 2008, s. 604f, 611.

9 Vgl. Staněk 2002, S. 59, 212-221.

10 Vgl. Staněk 2002, S. 78; Wiedemann 2007, S. 241.

11 Staněk 2007, S. 102; Wiedemann 2007, S. 245-247.

12 Vgl. Staněk 2002, S. 96-114, 158-169, 205-221; Staněk 2007, S. 102f, 133-158; Wiedemann 2007, S. 240-248; Radanovský 1997.

13 Staněk 2007, S. 103.


Literatur:

Alexander 1997: Manfred Alexander: Kriegsfolgen und die Aussiedlung der Deutschen. In: Robert Maier (Hg.): Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997, S. 95-104

Overmans 2008: Rüdiger Overmans: Das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. In: Rolf-Dieter Müller (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10: Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches. 2. Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges. Stuttgart 2008, S. 379-507

Radanovský 1997: Zdeněk Radanovský: Die Vertreibung der Deutschen 1945-1948. In: Robert Maier (Hg.): Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997, S. 79-94

Schwartz 2008: Michael Schwartz: III. Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656

Staněk 1995: Tomáš Staněk: Politischer Hintergrund und Organisation der Aussiedlung der Deutschen aus den böhmischen Ländern von Mai bis August 1945. In: Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Begleitband zur Ausstellung (Veröffentlichungen des Sudetendeutschen Archivs). München 1995, S. 113-152

Staněk 2002: Tomáš Staněk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Wien 2002

Staněk 2007: Tomáš Staněk: Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945-1948. München 2007

Wiedemann 2007: Andreas Wiedemann: "Komm mit uns das Grenzland aufbauen!" Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952. Essen 2007

Zimmermann 2001: Volker Zimmermann: Der "Reichsgau Sudetenland" im letzten Kriegsjahr. In: Jörg K. Hoensch (Hg.): Begegnung und Konflikt. Schlaglichter auf das Verhältnis von Tschechen, Slowaken und Deutschen 1815 - 1989. Beiträge aus den Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission. Essen 2001, S. 173-190