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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Ich, Annelies, konnte drin bleiben, aber es war immer schwer. Bericht von meinem Leben als einer in der Heimat Aussig Verbliebenen mit einer Inhaltsübersicht am Schluss

Autorin: Annelies Z.

Quellenbeschreibung: Autobiographischer Bericht, 25 Seiten, 4 Fotos, 1 Karte, 6 Reproduktionen und 2 Abschriften von Dokumenten

Entstehungszeit und -zusammenhang: Der Bericht entstand 2009 auf Anregung eines Mitarbeiters eines Zeitzeugenprojektes des Pädagogischen Arbeitskreises Mittel- und Osteuropa (PAMO) Hessen.

Entstehungsort: Aussig/Ústí nad Labem, Tschechien

Zeitraum der Schilderung: 1928-2009

Schlagworte: Arbeit, Ausbildung, Diskriminierung, Familie, Heirat, Integration, Lebensverhältnisse, Neuanfang, Wohnen

Geographische Schlagworte: Aussig, Tschechien

Konkordanz: Aussig→ Ústí nad Labem, Tschechien; Schönpriesen → Krásné Březno, Ortsteil von Ústí nad Labem, Tschechien; Schreckenstein→ Střekov, Ortsteil Ústí nad Labems, Tschechien

Fundort: Herder Institut, Marburg, Dokumentensammlung, Signatur: DSHI 140 OME 28; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/herder-institut-ev

Editionsmodus: [vollständiger Scan]


Inhalt:

Die Autorin beschreibt ihre Kindheit und Jugend in Aussig. Dort erlebte sie auch das Kriegsende und die Repressionen gegen die deutschen Einwohner. Von zwei längeren Lebensphasen in Rakonitz/Rakovník und Pilsen/Plzeň abgesehen, verbringt sie auch ihr weiteres Leben in Aussig. Seit Beginn der 1980er Jahre ist Frau Z. Mitglied des Deutschen Kulturverbandes und engagiert sich für das Gedenken an die deutschen Opfer der Ausschreitungen vom 31. Juli 1945 in Aussig.


Einordnung/Kommentar:

Die Vita von Frau Z. kann in Vielem stellvertretend für die Lebensläufe eines Großteils derjenigen Sudetendeutschen gelesen werden, die nach 1945 in der Tschechoslowakei bleiben konnten beziehungsweise mussten. Frau Z. stammt zwar aus einer Familie, in der es tschechische Verwandte gab, dies spielte für das Selbstverständnis der Familienmitglieder als Deutsche aber kaum eine Rolle. Frau Z. wuchs in einem weitgehend deutschsprachig geprägten Umfeld auf, lediglich von einem Großonkel und seiner Frau berichtet sie, diese seien "eigentlich Tschechen"1 gewesen.

Nach dem "Anschluss" der Sudetengebiete an das Deutsche Reich im Oktober 1938 durchlief auch Frau Z. das deutsche Bildungssystem. Sie musste das Pflichtjahr absolvieren, das die Nationalsozialisten 1938 für alle Frauen unter 25 Jahren einführten. Die jungen Frauen durften nur dann eine Lehre oder eine andere Ausbildung antreten, wenn sie nachweisen konnten, ein Jahr in der Land- oder Hauswirtschaft gearbeitet zu haben. Die auf das Pflichtjahr folgende Ausbildung konnte Frau Z. aufgrund der Kriegsereignisse jedoch nicht beenden.

Mit Kriegsende änderte sich Frau Z.s Lebenssituation grundlegend. Die Deutschen mussten auf Anordnung der Nationalausschüsse (Národní Výbor), der Exekutive des im Aufbau befindlichen tschechoslowakischen Staates, Armbinden tragen, die sie als Deutsche auswiesen. Dies wurde als demütigend empfunden und setzte die Träger Übergriffen aus.2 Frau Z. berichtet von einem der bekanntesten Vorfälle dieser Art, für den bis heute die "Aussiger Brücke" als Synonym steht. Bei der von Frau Z. erwähnten Explosionsserie im Stadtteil Schönpriesen/Krásné Březno am 31. Juli 1945 kamen mindestens 27 Menschen ums Leben, etwa 100 wurden verletzt.3 Die Ursache für die Explosionen ist bis heute unklar, 1945 wurden Deutsche für sie verantwortlich gemacht. Ob dies gezielt und mit der Absicht, die Vertreibung der Deutschen zu legitimieren, geschah, ist umstritten. Jedenfalls bildeten die Explosionen den Anlass für gewalttätige Ausschreitungen gegen Deutsche in Aussig, an denen sich auch Angehörige bewaffneter Einheiten beteiligten. Bei diesen Exzessen kamen an verschiedenen Orten in der Stadt - die im Nachhinein namengebende Brücke war nur einer der Schauplätze - etwa 80 bis 100 Menschen ums Leben.4

Die nach Kriegsende in der Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen wurden, wie von Frau Z. beschrieben, durch die sogenannten Beneš-Dekrete bzw. deren jeweilige Ausführungsbestimmungen systematisch ausgegrenzt.5 Sie verloren ihre Staatsangehörigkeit, wurden enteignet und mussten ihre Wohnungen zugunsten von Tschechen räumen. In öffentlichen Verkehrsmitteln durften sie, wenn überhaupt, nur unter besonderen Bedingungen mitfahren. Die Benutzung von Fahrrädern, Telefonen und Radios war ihnen verboten.6 Die Versorgung mit Lebensmitteln war ebenso schlecht wie die Gesundheitsfürsorge. Wie von Frau Z. erwähnt, wurden auf Basis des Dekrets Nr. 71 in den ersten Jahren nach Kriegsende zahlreiche Deutsche zur Zwangsarbeit ins Landesinnere gebracht. Damit sollten sie nicht nur aus ihrer bisherigen Heimat entfernt werden, sie wurden auch dringend als Arbeitskräfte benötigt, vor allem in der Landwirtschaft.7 Spezialisten wie Frau Z.s Vater wurden allerdings bevorzugt berufsnah eingesetzt.8

Angesichts dieser Behandlung erstaunt es nicht, dass viele Deutsche die Ausweisung schließlich als Erleichterung empfanden.9 Freiwillig erfolgte dieser Schritt aber nur in den seltensten Fällen. Bleiben durften nur ausgewiesene Antifaschisten und Fachleute wie Frau Z.s Vater, die nach Ansicht der tschechoslowakischen Behörden für den Wiederaufbau des Landes gebraucht wurden, sowie ihre Familienangehörigen.10

Ein Teil der Deutschen, etwa 700.000 Personen, wurde bereits kurz nach Kriegsende in den sogenannten "wilden Vertreibungen" gezwungen, das Land zu verlassen.11 Auf der Potsdamer Konferenz beschlossen die Alliierten, alle Deutschen aus der Tschechoslowakei auszusiedeln; dies betraf noch immer etwa 1,9 Millionen Menschen und war bis 1947 weitgehend abgeschlossen.12

1950 lebten in der Tschechoslowakei offiziell noch 165.117 Deutsche, davon 159.138 im tschechischen Landesteil, die übrigen in der Slowakei.13 Frau Z. beschreibt anschaulich, wie sich die soziale und politische Lage dieser Menschen im Laufe der Jahre verbesserte. Bereits bei Kriegsende hatte es auch Kritik am Umgang mit den Deutschen gegeben,14 und auch Frau Z. kann von Tschechen berichten, die ihr und ihrer Familie halfen. Der direkte, alltägliche Kontakt zwischen Tschechen und verbliebenen Deutschen, beispielsweise am Arbeitsplatz, führte schließlich zu einer gewissen Annäherung.15 Die 1948 ins Amt gekommene kommunistische Regierung wollte die deutschen Facharbeiter langfristig an sich binden und beschloss schließlich auch vor dem Hintergrund, dass ihre sozialistische Staatsideologie einen internationalistischen Anspruch artikulierte und die DDR offiziell als sozialistisches Brudervolk der ČSR galt, die etwa 160.000 verbliebenen Deutschen zu integrieren. Die diskriminierenden Sonderregelungen wurden zwischen 1948 und 1953 schrittweise abgebaut.16 Allerdings sollten die Deutschen ursprünglich nicht in ihren ursprünglichen Wohnorten bleiben dürfen, sondern sollten zur besseren Integration über die gesamte Tschechoslowakei verteilt werden. Diese Maßnahme wurde aber nicht vollständig umgesetzt. Frau Z.s Lebensweg zeigt zudem, dass es den verbliebenen Deutschen mit der Zeit möglich wurde, an ihre Heimatorte zurückzukehren.17

1949 konnten die Deutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft beantragen. Frau Z. berichtet, ihre Familie habe sich stattdessen bescheinigen lassen, Deutsche zu sein. Wie sie zögerten zu diesem Zeitpunkt viele Deutsche, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft anzunehmen, da sie sich von ihr keine Vorteile versprachen, zugleich aber befürchteten, von der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr wie bisher als deutsche Staatsbürger anerkannt zu werden und damit die Möglichkeit zu verlieren, nach Deutschland auszusiedeln. 1953 erhielten die in der ČSR wohnenden Deutschen schließlich generell die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zuerkannt, während die Bundesrepublik betonte, sie auch weiter als deutsche Staatsbürger zu betrachten.18

Die Deutschen wurden zwar materiell nicht für ihre am Kriegsende enteigneten Besitztümer entschädigt19 - auch Frau Z. erhielt Haus und Schneiderwerkstatt in Ústí nad Labem nicht zurück -, galten aber Mitte der 1950er Jahre als gleichberechtigte Staatsbürger. Hatten sie sich nach Kriegsende in keinster Weise organisieren dürfen, so konnten sie mit Beginn der 1950er Jahre auch wieder am politischen Leben teilnehmen und sogar eigene kulturelle Organisationen gründen wie später den von Frau Z. angesprochenen Deutschen Kulturverband.20

Frau Z.s Vita ist aber auch ein Beispiel dafür, wie die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei durch Assimilation schrumpfte - für Frau Z. selbst besaß ihre Nationalität lange Jahre keine Bedeutung, ihr zweiter Mann war Tscheche und ihre Kinder und Enkel leben ausschließlich mit tschechischen Partnern zusammen. In solchen Familien, so lässt sich generell beobachten, sank die Bedeutung der deutschen Sprache schnell.21Außerdem verlor die deutsche Minderheit durch Auswanderung kontinuierlich Mitglieder, weshalb die Zahl der in Tschechien lebenden Menschen, welche sich als Deutsche bezeichnen, bis 2001 auf 39.106 und bis 2011 auf nur noch 18.772 sank.22

Nach dem Systemwechsel 1989/90 wurden die Deutschen der Tschechoslowakei auch offiziell als Minderheit anerkannt.23Die daraus erwachsenden Möglichkeiten der Kulturpflege sprachen auch Frau Z. an, weshalb sie sich dem 1969 gegründeten Deutschen Kulturverband, heute Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität in der Tschechischen Republik (Kulturní sdružení občanů německé narodností ČR o.s.), anschloss. Ziel des Vereins ist die Erhaltung der Volkskultur und der Sprache der deutschen Minderheit.24Die größere Akzeptanz der deutschen Geschichte in Tschechien führte letztlich dazu, dass der Oberbürgermeister von Ústí nad Labem anlässlich des 60. Jahrestag der erwähnten Ausschreitungen am 31. Juli 2005 die von Frau Z. erwähnte Gedenktafel an der Elbbrücke enthüllte.25

1 Quelle, S. 3.

2 Staněk 2002, S. 96-114, 158-169, 205-221; Staněk 2007, S. 102f, 133-158; Wiedemann 2007, S. 240-248; Radanovský 1997.

3 Lozoviuková 2010, S. 57.

4 Lozoviuková 2010, S. 57; Pustejovsky 2001, S. 82-90; Kaiser 1999, S. 209-213.

5 Brandes 2010a.

6 Staněk 2002, S. 59, 78, 212-221; Wiedemann 2007, S. 241.

7 Brandes 2010a, S. 113; Staněk 2007, S. 36f, 102; Wiedemann 2007, S. 40-43, 245-247.

8 Wiedemann 2007, S. 245.

9 Vgl. Brandes 2010b, S. 729.

10 Gafert 2011, S. 69-71; Zimmermann 2010, S. 135.

11 Wiedemann 2007, S. 243.

12 Zimmermann 2010, S. 135; Wiedemann 2007, S. 244; Schwartz 2008, S. 604f, 611.

13 Zimmermann 2010, S. 135.

14 Wiedemann 2007, S. 294f.

15 Wiedemann 2007, S. 297f.

16 Wiedemann 2007, S. 370-386.

17 Wiedemann 2007, S. 370f.

18 Wiedemann 2007, S. 374f.

19 Wiedemann 2007, S. 376f.

20 Wiedemann 2007, S. 378-384.

21 Wiedemann 2007, S. 383.

22 Zimmermann 2010, S. 135; http://www.kulturverband.com/, Zugriff am 12.11.2012.

23 Zimmermann 2010, S. 135.

24 http://www.kulturverband.com/, Zugriff am 12.11.2012.

25 Kaiserová 2010, S. 121;

">, Zugriff am 12.11.2012.


Literatur:

Brandes 2010a: Detlef Brandes: Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten ("Beneš-Dekrete") (Mai-Oktober 1945). In: Brandes u.a. 2010, S. 112-114

Brandes 2010b: Detlef Brandes: Wilde Vertreibung aus der Tschechoslowakei. In: Brandes u.a. 2010, S. 727-730

Brandes u.a. 2010: Detlef Brandes, Holm Sundhausen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2010

Kaiser, Vladimír: Das Ende des Krieges und die Vertreibung der Deutschen aus dem Aussiger Gebiet. In: Detlef Brandes, Edita Ivaničková, Jiří Pešek (Hg.): Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Essen 1999, S. 197-214

Kaiserová 2010: Kristina Kaiserová: Denkmäler und Gedenkstätten in Tschechien. In: Brandes u.a. 2010, S. 120-122

Lozoviuková 2010:Kateřina Lozoviuková: Aussiger Brücke. In: Brandes u.a. 2010, S. 57f

Pustejovsky 2001: Otfrid Pustejovsky: Die Konferenz von Potsdam und das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945. Untersuchung und Dokumentation. München 2001

Radanovský 1997: Zdeněk Radanovský: Die Vertreibung der Deutschen 1945-1948. In: Robert Maier (Hg.): Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997, S. 79-94

Schwartz 2008: Michael Schwartz: Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656

Staněk 2002: Tomáš Staněk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Wien 2002

Staněk 2007: TomášStaněk: Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945-1948. München 2007

Wiedemann, Andreas: "Komm mit uns das Grenzland aufbauen!" Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945-1952; Essen 2007

Zimmermann 2010: Volker Zimmermann: Deutsche aus den böhmischen Ländern. In: Brandes u.a. 2010, S. 133-136

http://www.kulturverband.com/, Zugriff am 12.11.2012

http://www.kulturverband.com/w..., Zugriff am 12.11.2012

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