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Lexika und Dokumentationen

Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert

Fragebogen

Autor: Daniel K.

Quellenbeschreibung: Fragebogen, maschinenschriftliches Manuskript, 10 Blatt

Entstehungszeit: nach 1945

Entstehungszusammenhang: nicht bekannt

Entstehungsort: Kornwestheim

Zeitraum der Schilderung: 1940-1942

Schlagworte: Besatzung, Soldaten, Treck, Umsiedlung

Geographische Schlagworte: Rumänien/Ukraine, Bessarabien, Lichtental, Arzis, Sarata

Konkordanz: Lichtental → Світлодолинське/Switlodolynske, Ukraine (rumänisch: Tretia Stepi); Arzis → Арциз/Arzys, Ukraine (rumänisch: Arciz); Sarata → Сарата/Sarata, Ukraine (rumänisch: Sărata); Semlin → Земун/Zemun, heute Stadtteil Belgrads → Београд/Beograd, Serbien; Brüx → Most, Tschechien; Oberleutensdorf → Litvínov, Tschechien

Fundort: Bessarabiendeutscher Verein e.V., Geschäftsstelle Nord; https://bkge.de/zeitzeugen/institutionen/bessarabiendeutscher-verein-ev-geschaeftsstelle-nord

Editionsmodus: vollständiges Digitalisat


Inhalt:

Herr K. beantwortet einem unbekannten Interviewer in einem unbekannten Zusammenhang sieben Fragen zur Umsiedlung der Bessarabiendeutschen im Rahmen der Umsiedlungsaktionen, die im geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags (Ribbentrop-Molotow-Vertrag) vereinbart worden sind. Er beschreibt den Einmarsch der Roten Armee 1940 und die ersten Maßnahmen der Besatzungsmacht sehr weitschweifig. Zur Begründung negativer Erwartungen angesichts der Umbruchssituation erinnert er an die rumänische Besatzung während des Ersten Weltkrieges. Über die Umsiedlung selbst, die ausnahmslos alle Einwohner von Lichtental betraf, und das Leben in den Umsiedlerlagern gibt er einige Anekdoten wider. Die beteiligten Institutionen und den Weg der Umsiedler beschreibt er dagegen sehr knapp. Die Umsiedlungslager und die Ansiedlungsorte zählt er ohne weitere Erläuterungen auf. Möglicherweise fehlen in dem Manuskript weitere Fragen und Antworten zu diesen Themenbereichen.


Einordnung/Kommentar:

Herr K. beschreibt eine entscheidende Phase in der Geschichte der Deutschen in Bessarabien. Deren Vorfahren waren auf Initiative des Zaren Alexander I. zwischen 1814 und 1842 in das erst wenige Jahre zuvor von Russland annektierte Gebiet zwischen Schwarzem Meer, Pruth und Dnister eingewandert. Dort bildeten sie mehrere bäuerlich geprägte Kolonien, die lange Zeit verschiedene Privilegien genossen.1 Während des Ersten Weltkriegs wurden die Rechte der Deutschen im Zarenreich eingeschränkt, es drohte ihnen sogar die Deportation.2 Ende 1917 erklärte ein neu gebildeter Landesrat angesichts des zerfallenden Zarenreichs und des russischen Bürgerkriegs Bessarabien für unabhängig - die von Herrn K. erwähnte Zeit des Selbstschutzes. Doch bereits im Januar 1918 musste der Landesrat Rumänien um Hilfe gegen einrückende bolschewistische Truppen bitten. Der folgende Einmarsch rumänischer Truppen hatte zur Folge, dass sich die Region im April 1918 Rumänien anschloss. Obwohl die Zugehörigkeit Bessarabiens zum Königreich Rumänien durch den Versailler Vertrag bestätigt wurde, gab die Sowjetunion ihren Anspruch auf den schmalen, aber strategisch wichtigen Landstreifen nicht auf.3 In einem vertraulichen Protokoll zum Grenz- und Freundschaftsvertrag mit dem Deutschen Reich ließ sich Moskau daher des Desinteresses Deutschlands an Bessarabien versichern. Im Gegenzug gestattete die Sowjetunion für den Fall einer Annexion des Gebietes die freiwillige Umsiedlung aller Deutschen und Deutschstämmigen ins Deutsche Reich durch deutsche Institutionen.4 1940 nutzte Stalin die durch den deutschen Angriff auf Frankreich günstige politische Konstellation, um zwei Tage nach einem Ultimatum am 28. Juni in Bessarabien einzumarschieren. Da auch Deutschland, dem sich das Königreich aufgrund der politisch-militärischen Ereignisse in Europa seit 1938 immer stärker angenähert hatte, zum Nachgeben riet, zogen sich die rumänischen Truppen wie von Herrn K. beschrieben fluchtartig zurück.5

Für die Bessarabiendeutschen, die von der Vereinbarung zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion nichts wussten, war diese Entwicklung ein Schock. Als selbständige, oft wohlhabende Landwirte, die durch dort lebende Verwandte über die Verhältnisse in der Sowjetunion, insbesondere die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Verfolgung der "Kulaken" genannten Großbauern, unterrichtet waren, fürchteten sie um ihre Lebensweise, ihren Besitz, um Leib und Leben.6

Vor diesem Hintergrund ergänzt die Schilderung des Herrschaftswechsels 1918 durch Herrn K. nur die Gründe, aus denen die Lichtentaler der russischen Besetzung 1940 mit großem Misstrauen begegneten. Offenbar waren die Deutschen 1918 mehrheitlich froh, dem russischen Bürgerkrieg und schließlich der bolschewistischen Herrschaft zu entgehen, andererseits verlief der Übergang an Rumänien nicht reibungslos, was ebenso wie einzelne Maßnahmen der Regierung in der Schul- und Sprachenpolitik in den folgenden Jahren zu Vorbehalten gegenüber dem neuen Landesherrn führte.7 Insgesamt verhielten sich die Bessarabiendeutschen Rumänien gegenüber jedoch loyal, 1924 halfen sie bei der Niederschlagung eines kommunistischen Aufstandsversuchs.8 Diese Haltung erklärt die Bemerkung des Autors, dass die rumänischen Truppen sich 1940 lieber durch deutsche als durch russische Dörfer zurückgezogen hätten.

1940 bestätigte das Auftreten der sowjetischen Soldaten und Behörden die Befürchtungen der Bessarabiendeutschen. Sie selbst wurden aufgrund des deutsch-sowjetischen Abkommens bevorzugt behandelt, konnten aber das harte Vorgehen gegen andere Volksgruppen beobachten und litten unter den ersten Maßnahmen zur Sowjetisierung.9 Die von Herrn K. geschilderten Zusammenstöße mit sowjetischen Amtsträgern sind hier als eher minder schwer einzuordnen.10 Angesichts dieser Verhältnisse waren bereits Ende September 1940, als die deutsch-sowjetische Vereinbarung über die Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien und der Nordbukowina besiegelt wurde11, fast alle Bessarabiendeutsche bereit, ihre Heimat zu verlassen.12 Von 95.387 Bessarabiendeutschen blieben letztlich nur 2.058 zurück.13 Mit dem von den Nationalsozialisten in der Propaganda stets verbreiteten angeblichen Rückkehrwunsch der "Splitter deutschen Volkstums" in Ost- und Südosteuropa hatte dieser pragmatische Entschluss nichts zu tun. Vielmehr vermissten selbst die deutschen Umsiedlungsbeauftragen bei den Bessarabiendeutschen das Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen "Volksgemeinschaft".14

Die Umsiedlung selbst war einem der zentralen Ziele des nationalsozialistischen Regimes geschuldet, der Schaffung von Lebensraum im Osten. Durch die Annexion umfangreicher polnischer Territorien wie dem Reichsgau Wartheland rund um Posen/Poznań, in denen nur sehr wenige oder gar keine Deutsche lebten, schien im Jahr 1939 dieser Lebensraum gewonnen zu sein.15 Die Siedler, die notwendig waren, um die eroberten Regionen zu "germanisieren", gab es im Deutschen Reich trotz aller anderslautender propagandistischer Beteuerungen jedoch nicht. Die Reichsregierung schloss deshalb mit verschiedenen europäischen Ländern Umsiedlungsverträge ab.16 Die Umsiedlungen wurden dann von deutschen Umsiedlungskommissionen und örtlichen Behörden organisiert. Die Deutschen wurden, wie von Herrn K. beschrieben, per Treck, Autobus, Lastwagen, Schiff und Eisenbahn in Umsiedlerlager im Deutschen Reich oder in den besetzten Gebieten gebracht.17

Die Ansiedlung der Bessarabiendeutschen verzögerte sich nicht selten, was nicht nur daran lag, dass zunächst die Polen und Juden aus den vorgesehenen Ansiedlungsgebieten ausgesiedelt werden mussten - dies geschah mit großer Härte.18 Die "volksdeutschen" Umsiedler wurden zudem "rassisch" und auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft, wobei eine negative Bewertung bedeutete, dass sie leer ausgingen oder sogar in die Mühlen des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates gerieten.19 Außerdem wurden sie nicht wie versprochen wieder in ihren alten Dorfgemeinschaften angesiedelt, sondern auf verschiedene Gemeinden verteilt - in den geplanten "Mustergauen" des Dritten Reichs sollten nicht etwa überkommene landsmannschaftliche Bindungen und Traditionen konserviert werden, sondern ein neuer, nationalsozialistischer Menschenschlag geschaffen werden. Dies steigerte zusätzlich die auch Herrn K.s Schilderung anzumerkende Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Umsiedlung.20

Der Fragebogen ist wahrscheinlich unvollständig, offenbar bricht der Text in der Antwort zu Frage 7 ab. Angaben zur Ansiedlung im "Warthegau" selbst und zum weiteren Schicksal der Umgesiedelten fehlen daher. Zudem fehlen weitere Angaben zum Entstehungskontext des Fragebogens oder zur Person des Interviewten. Bei diesem handelt es sich, wie aus der Antwort auf Frage 4 deutlich wird, um den in der Quelle mehrfach genannten Bürgermeister Lichtentals. Dies erklärt den Erzählduktus, der davon geprägt ist, die Kooperation des Bürgermeisters sowohl mit den Rumänen als auch mit den Sowjets zu rechtfertigen und seine Distanz zu den jüdischen Bewohnern des Ortes herauszustreichen.

1 Schmidt 2003, S. 46-84; Hausleitner 2008, S. 825-830; Hofbauer, Roman 1993, S. 54-88.

2 Schmidt 2003, S. 55-57.

3 Hausleitner 2008, S. 833; Hofbauer, Roman 1993, S. 85f; Scharr, Gräf 2008, S. 57; Schödl 1995, S. 614.

4 Schmidt 2003, S. 127-129; Scharr, Gräf 2008, S. 75.

5 Schmidt 2003, S. 129-131; Balta 2005, S. 71-77; Scharr, Gräf 2008, S. 74f; Schödl 1995, S. 621.

6 Schmidt 2003, S. 83f, 134-141; vgl. Hausleitner 2008, S. 830; Roth 2010, S. 13-20; Rutowska 2010; Krzoska 2010, S. 76-78; Ziółkowska 2010; Haar 2009, S. 46-51.

7 Vgl. Schmidt 2003, S. 58-70, 85-87, 103f, 110; Hausleitner 2008, S. 831-835; Schödl 1995, S. 614, 619.

8 Hausleitner 2008, S. 833; Schmidt 2003, S. 92.

9 Schmidt 2003, S. 110, 134-141; Hausleitner 2008, S. 835; vgl. Hahn, Hahn 2010, S. 178.

10 Schmidt 2003, S. 136-140.

11 Jachomowski 1984, S. 68f.

12 Schmidt 2003, S. 141, 352-357; Schwartz 2008, S. 535.

13 Kolar 1997, S. 187.

14 Schmidt 2003, S. 123, 150-158, 340-357; Hausleitner 2008, S. 834; Kolar 1997, S. 176f; Schödl 1995, S. 614, 619.

15 Schulze 2006, S. 202; Ziółkowska 2010, S. 92f; Haar 2009; Esch 1998, S. 87-101, 128-165; Schmidt 2003, S. 199-223.

16 Schwartz 2008, S. 533-543; Krzoska 2010, S. 66-68; Esch 1998.

17 Vgl. Schmidt 2003, S. 127-158; Jachomowski 1984, S. 70ff.

18 Vgl. Madajczyk 1988, S. 430; Rutowska 2010, S. 46-50; Ziółkowska 2010, S. 96f; Esch 1998, S. 21-46, 79-101, 128-165, 226-251, 331-339, 324-406; Schwartz 2008, S. 543-551; Schmidt 2003, S. 176f, 199-203.

19 Schmidt 2003, S. 177-187, 191.

20 Vgl. Schmidt 2003, S. 75, 177, 184, 186-199, 232-252, 358-368.


Literatur:

Balta 2005: Sebastian Balta: Rumänien und die Großmächte in der Ära Antonescu (1940-1944). Stuttgart 2005

Brandes 1993: Detlef Brandes: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurußland und Bessarabien 1751 - 1914 (Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte, 2). München 1993

Esch 1998: Michael G. Esch: "Gesunde Verhältnisse". Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950. Marburg 1998

Haar 2009: Ingo Haar: Inklusion und Genozid: Raum- und Bevölkerungspolitik im besetzten Polen 1939 bis 1944. In: Mathias Beer, Dietrich Beyrau, Cornelia Rauh (Hg.): Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950. Essen 2009, S. 35-60

Hausleitner 2008: Marina Hausleitner: Bessarabien als historische Region. In: Thede Kahl, Michael Metzeltin, Mihai-Răzvan Ungureanu (Hg.): Rumänien. Raum und Bevölkerung Geschichte und Geschichtsbilder Kultur Gesellschaft und Politik heute Wirtschaft Recht und Verfassung Historische Regionen. 2 Teilbände. 2. Auflage, Wien 2008, S. 825-838

Hofbauer, Roman 1993: Hannes Hofbauer, Viorel Roman: Bukowina, Bessarabien, Moldawien. Vergessenes Land zwischen Westeuropa, Russland und der Türkei. Wien 1993

Jachomowski 1984: Dirk Jachomowski: Die Umsiedlung der Bessarabien-, Bukowina- und Dobrudschadeutschen. Von der Volksgruppe in Rumänien zur "Siedlungsbrücke" an der Reichsgrenze. München 1984

Kolar 1997: Othmar Kolar: Rumänien und seine nationalen Minderheiten 1918 bis heute. Wien 1997

Krzoska 2010: Markus Krzoska: Volksdeutsche im Warthegau. In: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Beiträge einer Tagung am 16.-18. Oktober 2009 in Poznań (Posen) veranstaltet von der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e.V. (Darmstadt) und dem Instytut Zachodni (Poznań). Marburg 2010, S. 66-82

Madajczyk 1988: Czesław Madajczyk: Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945. Köln 1988

Rutowska 2010: Maria Rutowska: Die Aussiedlung von Polen und Juden aus den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten ins Generalgouvernement in den Jahren 1939-1941. In: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Beiträge einer Tagung am 16.-18. Oktober 2009 in Poznań (Posen) veranstaltet von der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e.V. (Darmstadt) und dem Instytut Zachodni (Poznań). Marburg 2010, S. 43-51

Schmidt 2003: Ute Schmidt: Die Deutschen aus Bessarabien. Eine Minderheit aus Südosteuropa 1814 bis heute. Köln, Weimar, Wien 2003

Schödl 1995: Günter Schödl: Lange Abschiede: Die Südostdeutschen und ihre Vaterländer (1918-1945). In: Ders. (Hg.): Land an der Donau (Deutsche Geschichte im Osten Europas). 1995

Schwartz 2008: Michael Schwartz: III. Ethnische "Säuberung" als Kriegsfolge: Ursachen und Verlauf der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941 bis 1950. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Zweiter Halbband. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs. München 2008, S. 509-656

Ziółkowska 2010: Anna Ziółkowska: Die Situation der Polen im Warthegau. In: Eckhart Neander, Andrzej Sakson (Hg.): Umgesiedelt - vertrieben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau. Beiträge einer Tagung am 16.-18. Oktober 2009 in Poznań (Posen) veranstaltet von der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e.V. (Darmstadt) und dem Instytut Zachodni (Poznań). Marburg 2010, S. 92-100