Künstler
Anselm Kiefer (*1945), deutsch-österreichischer Maler und Bildhauer; zahlreiche internationale Ausstellungen, zahlreiche Auszeichnungen. Anselm Kiefer gilt als der derzeit erfolgreichste in Deutschland gebürtige Künstler.
Werk
"Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir", 1997, Holzschnittcollage auf Leinwand mit Emulsion, Acryl und Schellack / Collage of woodcuts on canvas with emulsion, acrylic and shellac, 268 x 398 x 6 cm. Part I: 199 x 398 cm; Part II: 69 x 198 cm (AKI 1552)
Interpretationshinweise: Kiefer setzt sich in zahlreichen Arbeiten hochreflektiert mit der deutschen Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf die gegenwärtige Identität auseinander. Seine Werk-Ensembles entwickeln sich über viele Jahre, wobei sich die Themen und Motive in immer neuen Arrangements wiederholen und zu einem Netz verweben. Der französische Kunsthistoriker Daniel Arasse spricht von einem „Labyrinth" des Kieferschen Oevres, das sich in einem „Prozess aus Kreuzung und Überarbeitung von Themen, Motiven und Konstellationen" entwickle (Arasse, S. 20). Dabei befasste sich Kiefer, der in diesem Zusammenhang als der „vielleicht größte Metaphysiker unserer Zeit" (Hoerschelmann, Albertina) bezeichnet wurde, auch intensiv mit philosophischen Themen.
Es ist insbesondere das Motiv des unendlich weiten Sternenhimmels, das sich bei Kiefer über Jahrzehnte hinweg (Arasse, S. 21) immer wiederfindet. Der Titel "Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir" wird von Kiefer erstmals 1980 verwendet, als er ältere, in den Jahren 1969/70 angefertigte Fotografien (Werkgruppe „Heroische Sinnbilder") mit Acryl und Emulsion überarbeitete und mit dem Zitat beschriftete. Es ging dabei um die Auswirkungen des vom „Dritten Reich" herbeigeführten beispiellosen Zivilisationsbruchs auf die deutsche Identität allgemein und auf die Möglichkeiten künstlerischen Agierens nach den unfassbaren Verbrechen insbesondere. Der Titel geht auf ein bekanntes Zitat aus dem „Beschluß" von Immanuel Kants „Kritik der praktischen Vernunft" (1788) zurück, in dem der Philosoph die äußere erfahrbare Welt mit der inneren Natur des Menschen verbindet und im menschlichen Bewusstsein zusammenführt. Das Zitat lautet vollständig:
"Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz". (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788, hier Kapitel 34, „Beschluß").
1997 übertrug Kiefer das Motiv des „gestirnten Himmels" in ein erweitertes, jetzt stärker metaphysisches Bedeutungsfeld. In dem hier im Mittelpunkt stehenden Holzschnitt zeigt sich der Künstler selbst liegend unter dem weiten Sternenhimmel, offenbar in harmonischer Beziehung zum Universum, mit dem ihn ein hauchdünner Strahl zu verbinden scheint. Indem der Holzschnitt den gestirnten Himmel und das moralische Gesetz mit dem eigenen menschlichen Existenz-Bewusstsein verknüpft, wird insbesondere der Schlusssatz des Kant-Zitats aufgegriffen und visualisiert.
Dabei wird offenbar auch die Lehre des englischen Renaissance-Philosophen Robert Fludd (1574-1637) einbezogen, dem Kiefer einen eigenen Werkzyklus gewidmet hat („For Robert Fludd – The secret Life of Plants", 2001). Nach Fludds Naturphilosophie ist der Mikrokosmos – der Mensch in seiner irdischen Welt – ein Abbild des Makrokosmos, des Universums. Alles Irdische hat demnach seine Entsprechung im Unendlichen, wie es die Verbindung des Menschen zum Sternenhimmel andeutet.
Der unter den Sternen liegende und mit dem Himmel in Verbindung tretende Künstler kommt ähnlich in weiteren Werken Kiefers vor, die durch ihre Titel („Sternenfall" 1995, „Die berühmten Orden der Nacht", 1997) neu kontextualisiert werden, sich aber letztlich ebenfalls auf das Zitat Immanuel Kants beziehen. In den Werken, die das Motiv des „gestirnten Himmels" aufgreifen, versinnbildlicht Kiefer somit auch die harmonische Beziehung des Künstlers zum Universum, offenbar fest daran glaubend, dass „wir die Membran zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos sind" (Hoerschelmann).
Literatur
- Daniel Arasse: Anselm Kiefer. München 2015.
- Heiner Bastian (Hg.): Anselm Kiefer. Heroische Sinnbilder/ Heroic Symbols. München 2008.
- Antonia Hoerschelmann (Kuratorin): Anselm Kiefer: Die Holzschnitte (Ausstellungskatalog Albertina). Wien 2016.
- Anselm Kiefer: Die Holzschnitte. Ausstellung Albertina 18. März – 19. Juni 2016; vgl. http://www.jitter-magazin.de/anselm-kiefer-die-holzschnitte/
- Alexandra Matzner: Anselm Kiefer. Die Holzschnitte. Monumentale Druckgrafiken in der Albertina, 2016; https://artinwords.de/anselm-kiefer-die-holzschnitte-in-der-albertina/
Copyright/ Aufbewahrungsort
© Anselm Kiefer; Photo: Ulrich Ghezzi; Courtesy GALERIE THADDAEUS ROPAC, London, Paris, Salzburg. Die weitere Verbreitung dieser Abbildung ist ohne ausdrückliche Zustimmung der Rechteinhaber untersagt.
Publiziert im Juni 2019
Zitierweise
Matthias Weber: Immanuel Kant in Werken der modernen Kunst – Anselm Kiefer (1997); https://www.bkge.de/Projekte/Kant/matthias-weber/Kiefer_Anselm_1.php