Kooperationsprojekt des BKGE (Europäische Ethnologie, Geschichte, Kunstgeschichte) und der Universität Wrocław (federführend Institut für Germanistische Philologie unter Beteiligung von Historikern und Kunsthistorikerinnen)
Großstädte üben eine besondere Faszination aus: In ihnen kristallisieren und potenzieren sich gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen, sie sind Vorreiter der Modernisierung, Experimentierfeld für Veränderungen, Seismographen für gesellschaftliche Entwicklungen und kulturelle Neuerungen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich der Wandel der Städte, in Europa stiegen zahlreiche Orte zu „neuen“ Großstädten auf, die vor allem als regionale Zentren Bedeutung erlangten. Zu ihnen gehörte auch die schlesische Metropole Breslau, deren Bevölkerungszahl von 100.000 im Jahr 1842 auf mehr als 500.000 (1910) anstieg.
Die Herausbildung einer spezifisch bürgerlichen Stadtkultur, aber auch die ersten Auswirkungen sozialpolitischer Maßnahmen führten zu einem Zuwachs von Freizeit und Wohlstand breiterer Schichten. Ein größeres Angebot an Konsummöglichkeiten, die über den unmittelbaren Bedarf hinausgingen, sowie ein diversifiziertes Freizeitangebot bildeten sich heraus. Beides lässt sich anhand von Gebäuden, Parks, Plätzen etc. räumlich im Stadtbild verorten, beeinflusste den Alltag und die Lebensqualität vieler Menschen, den „Ruf“ der Stadt, ihre Wirtschaft und Anziehungskraft. Ebenso prägten spezifische Organisationsformen das gesellschaftliche Leben in der Stadt – von bürgerlichen Salons über Vereine und Verbände bis hin zu Arbeiterinitiativen. Damit traten verschiedene Akteure auf den Plan, die Konsumangebote für die Lebenshaltung und die Freizeitgestaltung der Bürger machten: Unternehmer und Kaufleute, Genossenschaften, staatliche und städtische Behörden, religiös motivierte und karitative Einrichtungen, aber auch Strukturen der Volksbildung und die Arbeiterbewegung und viele andere.
Für die Erforschung dieser Entwicklungen bietet sich die interdisziplinär arbeitende Konsumgeschichte als relativ junges, integratives und gegenwärtig stark expandierendes Feld der Geschichtswissenschaften an. Sie zielt auf die Erforschung wirtschaftlicher, politischer sozialer und kultureller Phänomene und Aspekte von Gesellschaften und geht davon aus, dass diese in Europa spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmend als „Konsumgesellschaften“ beschrieben werden können, wenn ein breiter Konsumbegriff zu Grunde gelegt wird, der sowohl den Erwerb und Gebrauch von Gütern und Dienstleistungen sowie die damit verbundenen Diskurse berücksichtigt.
Das geplante, mehrjährige Forschungsvorhaben des BKGE und seiner polnischen Partner möchte dieses Paradigma auf die schlesische Metropole Breslau/Wrocław anwenden und dabei in der Forschung bislang nicht oder kaum beachtete Aspekte und vorhandenes Wissen zu einem umfassenden gesellschaftlichen Panorama der Stadt zusammenfügen.
Breslau/Wrocław mit seiner bewegten deutsch-polnischen Geschichte eignet sich in besonderer Weise als Untersuchungsgegenstand. Als ehemals deutsche, seit 70 Jahren polnische Stadt erlebte Breslau/Wrocław Entwicklungen, die die Geschichte beider Staaten in den letzten 150 Jahren maßgeblich beeinflussten und widerspiegeln: den Aufstieg zur modernen Großstadt bis zum Ersten Weltkrieg, Versorgungskrisen im Krieg und wirtschaftliche Kriegsfolgen wie Inflation, Arbeitslosigkeit usw., Demokratisierung der Gesellschaft und des Konsums, Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus, die Zerstörung in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, den nahezu vollständigen Austausch der Bevölkerung, die Errichtung einer sozialistischen Staats- und Wirtschaftsordnung sowie schließlich die Schaffung demokratischer Strukturen ab 1989.
Das Projekt positioniert sich im Schnittpunkt von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Kulturwissenschaften, Städteforschung, Populärkultur- und Freizeitforschung.
Derzeit werden 15 Teilprojekte aus folgenden Bereichen bearbeitet:
· Theater und bürgerliche Geselligkeitskultur
· Nahe und ferne Naturräume als Sphären der Freizeitgestaltung
· Freizeit und Fremdenverkehr in und um Breslau
· Konsum zwischen Moral, Restriktion und Selbstbeschränkung
· Räumliche und soziale Verfügbarkeit des Konsums